Sehr geehrte Damen und Herren,
wer die Zeitung aufschlägt oder die Nachrichten im Fernsehen verfolgt, liest und sieht: der Sozialstaat steht wieder zur Debatte, ein zu hohes Bürgergeld, die Warnung vor dem bald kollabierenden Rentensystem und überbordenden Gesundheitsausgaben sind die Stichworte, die dann regelmäßig fallen.
Natürlich darf dann auch der Hinweis auf die „soziale Hängematte“ nicht fehlen, in dem sich die Bezieher von Sozialleistungen räkeln. Es fallen Worte wie Reform, in diesem Zusammenhang allerdings ein Synonym für „sparen“ und „kürzen“. Wer jemals versucht hat, auch nur einen Monat mit dem Geld auszukommen, das zum Beispiel einer alleinerziehenden jungen Mutter als sogenannte Transferleistung zusteht, der wird schnell feststellen, wie aus der ach so bequemen sozialen Hängematte ein steinhartes Brett wird. Vorgestern sind mir zwei kleine Artikel aus der Tageszeitung aufgefallen, die auch noch direkt untereinander gesetzt waren. Der Sozialstaat sei in seiner Größe nicht mehr finanzierbar, sagt der Bundeskanzler und stellt „notwendige Einschnitte“ in Aussicht. Direkt darunter die Meldung, dass Eltern ihre finanzielle Situation zunehmend pessimistisch sähen. Einer Forsa-Umfrage zufolge sind ein Viertel der Väter und Mütter besorgt, dass sie die Grundbedürfnisse ihrer Familie wie Wohnung, Heizung und Nahrung nicht mehr ausreichend erfüllen können. Seit Jahresbeginn (!) sei dieser Anteil von 15 auf 25% gestiegen, heißt es in dem Artikel, Tendenz steigend.
Nun frage ich einmal provokativ: Wo stünde denn der Sozialstaat unter noch anderen Bedingungen? Wenn es in Jülich „Die Jülicher Tafel e.V.“ nicht gäbe, den „Arbeitskreis sozialdemokratischer Frauen“, den „Caritas fairkauf“ , um nur einige beispielhaft zu nennen. Gerade diese sind es, die mit der Abgabe von Lebensmitteln und gut erhaltener Kleidung helfen, die Not vieler Familien ein Stückweit zu lindern. Und es gibt in Jülich – und um ihn geht es heute hier – um den eingetragenen und als gemeinnützig anerkannten Verein „Kleine Hände e.V – Hilfen in Notlagen für Kinder, Mütter und Väter.“
Die „Kleinen Hände“ gibt es schon sehr lange, auch in Jülich. Während aber andernorts viele Institutionen mit genau dieser Zielgruppe nicht mehr bestehen, kann der Verein in Jülich auf eine Beständigkeit verweisen, die seinesgleichen sucht. Seit 1988, also seit jetzt 37 Jahren – das ist mehr als eine Generation – stellen deren Mitglieder sich der Verantwortung für Kinder, Mütter und Väter in Notlagen.
Ausgangspunkt für die Arbeit war seinerzeit die Reform des §218 StGB, dem vielumstrittenen sogenannten „Abtreibungsparagrafen.“ Daraus entsprang die Idee von Prof. Dr. Rita Süßmuth, der späteren Bundestagspräsidentin, Unterstützervereine zu gründen, die es Frauen ermöglichen sollten, trotz prekärer finanzieller und sozialer Umstände ihre Babys zu bekommen und aufzuziehen. Auch in Jülich fanden sich sofort engagierte Frauen, die den Vorschlag aufgriffen und umsetzten. Ich nenne hier insbesondere die Gründungsvorsitzende Renate Hövelmann, ohne die anderen, die mit ihr die Initiative auf den Weg brachten und jahrelang zusammenarbeiteten, vergessen zu wollen. Natürlich auch alle anderen, die danach das Ruder und die Arbeit übernahmen.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich vieles geändert: politische und gesellschaftliche Umbrüche, Migranten aus vielen Ländern, Flüchtlinge und Verfolgte, Veränderungen der schulischen Landschaft und vieles mehr.
Ungewollte Schwangerschaften sind nicht mehr mit einem Makel behaftet wie noch vor einem Vierteljahrhundert. Im Fokus heute stehen eher Kinder und deren Familien, die sich in einem schwierigen Lebensumfeld befinden und vor allem mit dem Stigma der Bedürftigkeit behaftet sind. Das „Nicht dazu gehören“ in den Zwängen der Konsumgesellschaft, Kinder, die ausgegrenzt und „abgehängt“ werden, weil sie keine teuren Markenklamotten tragen oder nicht das neueste Handy vorweisen können, wenn sie denn überhaupt eins besitzen, und Eltern, die sich schämen, weil sie ihren Kindern keine anderen Möglichkeiten und Perspektiven bieten können und oft „nein“ sagen müssen, weil es hinten und vorne an vielem fehlt. Dies ist für einen nicht gerade geringen Teil unserer Gesellschaft eine große, oft dauerhafte Belastung und – man kann das so sagen – eine der Seuchen unserer Zeit.
Wie also tragen die „Kleinen Hände“ dazu bei, die Seuche der sozialen Spaltung, wenn schon nicht zu überwinden, so doch zu begrenzen? Ich möchte dazu aus der Web-Seite der „Kleinen Hände“ zitieren: „Die „Kleinen Hände“ werden überall gebraucht“ , heißt es dort sozusagen als Praambel. Sie „sind Ratgeber und Gesprächspartner, Amtsbegleiter und Kummerkasten-Tanten… alles in einem Verein. Gespräche unter vier Augen werden geführt, wenn am Ende des Geldes noch viel Monat übrig ist oder Finanzreserven für plötzlich auftauchende Sonderausgaben aufgebraucht sind.“ Da sind die „vielzitierte kaputte Waschmaschine, zu schnell wachsende Kinderfüße oder Ausstattungen in Fußballvereinen oder Tanzgruppen. Bis vor einigen Jahren auch für Schulbedarf, Klassenfahrten, Mittagessen, Kultur, Sport und Freizeit. Hier hat sich glücklicherweise die Gesetzeslage positiv geändert. Worum sich die „Kleinen Hände“ aber nach wie vor kümmern, dafür gibt es keinen Sozialplan, kein Amt, das schnell genug und unbürokratisch helfen kann“ – und ich ergänze mal, leider nicht helfen darf, weil die gesetzlichen Vorgaben dies nicht zulassen.
Es gibt eine Menge zu tun, und wer tut’s? Nicht die Institution als Konstrukt, sondern „People do!“ (Leute tun es). Viele ehrenamtlich tätige Frauen – Frage am Rande: Warum eigentlich keine Männer? – bringen sich ein, um im Dickicht der rechtlichen Möglichkeiten die Wege zu finden, die die Notlagen der Betroffenen lindern können. Früher Hartz IV, jetzt Bürgergeld, demnächst dann „Grundsicherung“, SGB II, BuT sind nur wenige Beispiele für komplizierte und komplexe Hintergründe, die sie durchschauen müssen. Hilfreich ist dabei die Zusammenarbeit mit dem Sozialamt der Stadt Jülich, vor allem aber die Kooperationen mit den anderen Jülicher Vereinen und Institutionen, die sich mit unterschiedlichen Schwerpunkten für existenzsichernde Maßnahmen einsetzen und Notlagen abfedern. Ich nenne als Beispiele den sogenannten „Kleinen Runden Tisch“, Musikschulbeiträge, Ferienfreizeiten, Brückenkopfpark-Karten für Familien, Eintrittskarten oder Karten für das Freibad. Dies alles unter der Prämisse, Kindern eine Perspektive zu bieten und sie nicht „abgehängt“ ihrem sozialen Umfeld zu überlassen und, auch das ist wichtig zu erwähnen, ohne Ansehen der Nationalität, der Religion oder dem kulturellen Hintergrund. Und selbstverständlich auch überparteilich.
Die „Kleinen Hände e.V.“, die zurzeit von der 1. Vorsitzenden Verena Heinen geleitet werden, ist ein Verein, der sich durch Mitgliedsbeiträge und Spenden trägt. Vor allem aber wird er getragen durch die – bitte nicht wörtlich nehmen – „Großen Hände“ der Frauen, also der Arbeit – ich betone dies noch einmal ausdrücklich – der ehrenamtlich tätigen Frauen. Das, was sie tun und leisten, hat zum sozialen Gesicht der Stadt Jülich beigetragen, trägt dazu bei und wird – davon bin ich überzeugt – auch in Zukunft dazu beitragen.
Ihre Hilfe in schwierigen Zeiten für Kinder, Väter und Mütter ist nicht hoch genug einzuschätzen. Dabei achten Sie und der Verein darauf, die Menschen an die Hand zu nehmen, sie zu unterstützen, wo immer es geht, aber immer darauf bedacht zu sein, sie nicht zu gängeln, sondern ihnen freie Hand zu lassen und eigene Entscheidungen zu treffen.
Der Sozialstaat, in dem wir leben und auf den wir durchaus stolz sein können, kann nicht alles. Das wissen wir. Wir wissen aber auch, dass dieser Sozialstaat nur ein Minimum leistet, ein Minimum, das mit der Begründung finanzieller Schieflagen der Haushalte in Frage gestellt wird. Die politische Auseinandersetzung wird geführt, das ist klar. Das Ergebnis dazu ist nicht absehbar, wahrscheinlich ist das Werkzeug dazu aber eher die Axt als das Füllhorn. Und – um den Gedanken von vorhin aufzugreifen – dieser Sozialstaat sähe noch ganz anders aus, wenn es Institutionen und Vereine wie die „Kleinen Hände“ nicht gäbe. Das gilt für die Vergangenheit und für die Zukunft wahrscheinlich erst recht. Insofern haben der Verein und die dort Tätigen die Verleihung der „Klippe“ als Zeichen des Dankes für ihr unermüdliches, ehrenamtliches Engagement um soziale Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich mehr als verdient. Ich freue mich mit Ihnen für diese Auszeichnung, spreche Ihnen auch meinen persönlichen Dank für ihre Arbeit aus und wünsche Ihnen auch für die kommenden Jahre die Kraft, die sie benötigen, um anderen in Not
Geratene unter die Arme zu greifen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.