Die Nordischen Filmtage Lübeck bedeuten für mich und meine Psyche ein jährliches Highlight. Fünf Tage lang (Mi bis So) steht Anfang November diese ohnehin besondere Stadt im Spotlight der nordischen Filmproduktionen. Die Fahrt ist lang, aber ich kam gerade just in time zu: „The Summer Book“ – „Das Sommerbuch“, der Koproduktion zwischen Finnland und Großbritannien unter der Regie des 1983 in Los Angeles geborenen Charlie McDowell. Der Film mit Anders Danielsen Lie als Vater, Glenn Close als Oma und Emily Matthews als Tochter/Enkelin Sophia in den Hauptrollen basiert auf dem gleichnamigen Roman der Autorin Tove Jansson. Der Roman zählt als ein wichtiger Beitrag zur Adoleszenzliteratur. Im Zentrum stehen der Prozess der Selbstfindung, der Ablösung vom Elternhaus und die Auseinandersetzung mit den Krisen und Herausforderungen des jungen Lebens. In diesem besonderen Fall gilt es den frühen Tod der Mutter zu verkraften. Eine idyllische Insel im Finnischen Meerbusen mit einem kleinen Traum-Ferienhäuschen bildet den Handlungsrahmen mit malerischen Sonnen- Auf- und Untergängen. Ein Film, über eine junge Seele für Seelen jeden Alters, versehen mit zusätzlichen Gaben der wunderbaren Natur Finnlands. Glen Close spielt eine gütige weise alte Frau, die das Lebensende vor sich sieht, aber dabei ihre verbliebenen Kräfte auf die Enkeltochter fokussiert. Ein Kinostart für Deutschland ist noch nicht angekündigt. Hoffentlich findet dieser Film auch hierzulande den Weg in die Kinos.
Nicht ganz 200 Filme haben ihr facettenreiches Licht auf die neun Festivalleinwände geworfen, gut 10% davon konnte ich mir ansehen. Der Eröffnungsempfang im illuminierten Ostchor des Domes ist jedes Jahr ein Highlight. Der Lübecker Dom ist nicht säkularisiert, sondern weiterhin die bischöfliche Predigtstätte der evangelischen Kirchengemeinde und ein wichtiger Ort für Gottesdienste und Kirchenmusik. Ich habe es genossen im Weltkulturerbe zu wandeln, Grundsteinlegung 1173 durch Heinrich den Löwen. Lübeck versteht es bestens, die eigene Geschichte und Kultur mit der Filmkultur zu verheiraten. Zudem sind die Festivalbesucher aufgeschlossen und freundlich und ich komme leicht mit ihnen ins Gespräch.
Der mir liebste und wichtigste Film war die Familienkomödie „Honey“ (2025) aus Dänemark. (Nicht zu verwechseln mit dem US-Tanzfilm „Honey“ aus dem Jahre 2003 und auch nicht mit der Krimikomödie von Ethan Coen „Honey don´t“ (2025).)
Auch hier stand wieder ein heranwachsendes Mädchen im Mittelpunkt, Honey, (13) dargestellt von der 15jährigen Selma Sol í Dali Pape. Sol heißt ja Sonne und sie ist wirklich ein Sonnenschein, verfügt über eine Granaten-Begabung mit Scheinwerferaugen, die die Welt hell zum Leuchten bringen und unerschütterlich Hoffnung versprühen. Sieben Jahre musste die Regisseurin Natasha Arthy ausharren, bis die Finanzierung des Films nach dem zugrunde liegenden Roman „Hest, Hest, Tiger, Tiger“ von Mette Neerlin stand, aber im „verflixten“ siebenten Jahr war es dann so weit. Niemand wollte Geld geben für einen Film, in dem der Opa (dargestellt von Jesper Christensen) stirbt. Das sei zu traurig. Und dass der Vater ein spinnerter Haschisch-“Gärtner“ und -Dealer ist, kam auch nicht gut. Dabei sind diese Figuren weitere Trumpfkarten in diesem spannenden und musikalisch mitreißenden Abenteuer. Singen kann „die Klene“ auch noch. Ihr Traum: Bandmitglied sein. Der Opa wird verleugnet, aber der „großen Klenen“ macht niemand etwas vor, auch die Mutter nicht. Der Alte ist zunächst schrullig verstockt, aber Honey taut ihn auf und dann gibt er alles, auch Dinge, die ihm gar nicht gehören, ehem. Ein herzerwärmender wunderbarer Film mit dem Tempo eines sich nach vorne entwickelnden Lebens. Die Regisseurin Natasha hat im Anschluss der Vorführung erklärt, dass sie die Geschichte immer wieder der älter werdenden Hauptdarstellerin innerhalb dieser langen Wartezeit anpassen musste. Keine leichte Aufgabe. Natasha hat im Anschluss Plakate verschenkt und signiert. „Für Peer“ – Bin stolz wie Oskar, Danke!
Jörg Schöning kuratiert seit einigen Jahren die Retrospektive der Nordischen Filmtage. Ich bin erklärter Fan von ihm und seiner Film-Auswahl. Dieses Jahr haben sich in seiner Reihe gar zwei meiner Interessensgebiete überschnitten: Kunst und Kino. Dabei ging es um Filme über nordische Künstlerinnen und Künstler mit ihren Werken und um deren Einflüsse im Nordischen Film. Die Wiedereröffnung des Lübecker Museums Behnhaus, das Kunstwerke der thematisierten Künstler Marie Kroyer und Edward Munch beherbergt, war willkommener Anlass für die Reihe: „Lichtmagie und Farbenzauber. Malerische Einflüsse im nordischen Kino“. Ein weiterer Grund für diese Reihe ist die derzeitige Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle, die den schwedischen Maler Anders Zorn würdigt.
Gesehen habe ich:
„Marie Krøyer – The Passion of Marie“
Bis zu diesem Film kannte ich nur Maries Mann, den Maler Peder Severin Krøyer. Er ist 1851 in Stavanger geboren und zog wie viele andere Skandinavier in das auch heute nur gut 7000 Seelen zählende Skagen. So heißt die nördlichste Stadt Dänemarks, etwa 45 km nördlich von Frederikshavn. Der Ort an der Nordspitze von Jütland ist beliebt als Seebad und besitzt den größten Fischereihafen des Landes. Es gab damals wie heute lange Sandstrände und da sind wir auch schon bei meinem Krøyer-Lieblingsbild. Es ist 1893 entstanden und wohl sein bekanntestes Werk. Es trägt den Titel „Sommerabend bei Skagen – Der Strandspaziergang“ und zeigt seine Frau Marie zusammen mit der impressionistischen Malerin Anna Ancher. Die Skagen-Maler wurden durch das besondere Licht dieser Gegend, ich möchte sagen, magisch angezogen und strömten zuhauf in den Fischerort. So entstand die größte Künstlerkolonie Dänemarks. Die Gegend um Skagen ist auch heute noch malerisch. Das Stadtbild wird von kleinen, ocker verputzten Häusern mit roten Ziegeldächern bestimmt. Ihre weißen Dachfugen dienten den Fischern als Landmarken. Leider hat mir der Film meine geliebte Krøyer-Idylle zerstört. Das liegt an der traurigen Wirklichkeit dieses Ehepaares, die der Film zum Thema hat. Nicht nur, dass Peder seine Frau Marie gnadenlos als Malerin runter putzt. Er ist hochgradig psychisch gestört und dabei zudem gewalttätig. Wie bedauernswert. Dennoch kann ich diese „Szenen einer Ehe“ aus dem Jahr 2012 unter der Regie des dänischen Meisterregisseurs Bille August (Auswahl: „Pelle, der Eroberer“, 1987; „Das Geisterhaus“, 1993; „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“, 1997) nur empfehlen.
Es gibt eine DVD und eine Blue-ray als Skandinavien-Import. Beide sind aber derzeit nicht verfügbar. Zum Trost könnte ein 2019 bei Rowohlt erschienenes Taschenbuch dienen: „Die Frauen von Skagen“, ein Buch über die legendäre Künstlerkolonie. Die Maler:Innen wie Anna und Michael Ancher, Marie und Peder Severin Krøyer bilden den Hintergrund und Schauplatz des Romans von Stina Lund („Preiselbeertage“).
Kurz nach Ankunft in Lübeck konnte ich den Eröffnungsfilm dieser Retrospektive sehen:
„Zorn“, noch eine Variante von „Szenen einer Ehe“. Der schwedischer Maler, Radierer, Grafiker und Bildhauer Anders Zorn hat ein Lebensalter von 60 Jahren erreicht und wurde 1860 bei Mora in Dalarna geboren.
Schweden für Anfänger: Mora ist die Produktionsstätte der bekannten schwedischen Mora-Messer, von denen jeder Junge eines in der roten Pappscheide am Gürtel trägt, wenn er draußen ist. Das „Morakniv“ ist sozusagen der Bruder des französischen Draußen- allerdings Klappmessers „Opinel“. Die Landschaft Darlana ist bekannt für seine bunten Holzpferde. Fehlen nur noch die Elche zum Schweden-Dreiklang.
Zorn ist also neun Jahre jünger als sein Malerkollege Krøyer. Gemeinsam ist ihnen „das magische Licht“. Ob der Schwede dem dänischen „Maler des Lichts“, so nannten sich die Skagen-Künstler, jemals begegnet ist, konnte ich nicht verifizieren.
Zorn hatte keinen guten Start ins Leben, unehelich geboren, wuchs er bei den Eltern der Mutter auf. Den deutschstämmigen Vater lernte er nie kennen. Die 1994 entstandene schwedisch-finnisch-norwegischen Koproduktion zeichnet sein Leben als Erwachsener nach. Zorn ist u.a. bekannt für seine anmutigen Akte in lichtdurchfluteter Natur. „Nur schauen, nicht anfassen“ ist allerdings nicht seine Maxime, wie der Film stark betont und auch auskostet. Anders Zorn verschafft sich seine anatomischen Kenntnisse gern durch praktische Übungen und bevölkert unter anderem höchstselbst das von ihm großzügig begründete Waisenhaus. Der gern unter Alkoholeinfluss stehende Prolet mit einer Frau (Liv Ullmann) aus gutem Hause an seiner Seite, hat es dennoch geschafft, in der schwedischen Gesellschaft einen guten Platz einzunehmen.
Der 1928 auf der Insel Alnö bei Sundsvall in Schweden geborene Schauspieler, Regisseur und Drehbuchautor Gunnar Hellström hat „in seinem“ „Zorn“ all diese Talente ausgelebt. Gunnar hat die Titelfigur im wahrsten Sinne des Wortes persönlich mit seiner ganzen Mannes-Wucht verkörpert. Hellström ist Anfang der 60er Jahre der Sprung nach Hollywood geglückt und war u.a. auch als Regisseur und Darsteller für die bekannte TV-Serie „Dallas“ aktiv und hat bei mehreren „Bonanza“-Folgen Regie geführt.
„Zorn“ beginnt mit einer Massenszene rund um das Schwedische Mittsommerfest, das in diesem Land im Stellenwert direkt neben Weihnachten steht, so wie im Rheinland der Karneval, ehem. „Midsommardans“, 1897 ist eines der bekanntesten Bilder von Zorn. (Ich empfehle eine Google-Bildersuche zum Stichwort Anders Zorn)
Dieses Biopic illustriert lebhaft die Weltgeltung dieses sehr bodenständigen Ausnahmekünstlers, der zwei US-Präsidenten und viele einflussreiche Persönlichkeiten, darunter auch Mitglieder der amerikanischen Finanzelite, porträtiert hat. Für Rockefeller hatte er allerdings keine Zeit. „Ich muss jetzt nach Schweden. Wir feiern Midsommar.“
In der Reihe lief auch der mit Pause vierstündige Film „Edvard Munch“ (1863 -1944) aus dem Jahre 1974. Munch ist also drei Jahre nach Zorn geboren, hat aber gut zwei Jahrzehnte länger gelebt. Er gilt als der bekannteste norwegische Maler, ist weltweit berühmt für seine Werke, insbesondere für das Gemälde „Der Schrei“, entstanden um 1893. Munch war 30. Er ist einer der bedeutendsten Wegbereiter des Expressionismus in Europa. Sein Werk ist geprägt von seiner emotionalen Ausdrucksstärke und der Auseinandersetzung mit psychologischen Themen. Tod und Tuberkulose bestimmen seine Kindheit und Jugend. Vor dem autoritären Vater rettete er sich in die Kristiania-Boheme um den anarchistischen Freidenker Hans Jæger, dem im Film eine große Rolle zukommt.
Munch hat ihn 1889 porträtiert. Munch macht auch die Bekanntschaft des neun Jahre älteren naturalistischen Malers Christian Krohg und nimmt selbst Malunterricht in Paris. In Kristiania (heute wieder Oslo) begegnet man Munchs expressionistischen Bildern mit Unverständnis. In Berlin verursachen sie einen Skandal. Fiktive Interviews in Munchs Familien- und Bekanntenkreis verleihen Peter Watkins’ mit Laien besetztem biographischen Spielfilm dokumentarisches Flair. Als umfassenderes Gesellschaftsporträt zeichnet der Film mit Auszügen aus Munchs Tagebüchern und Notizen seine persönliche Entwicklung nach, während die Darstellung der Arbeit an Gemälden und Selbstporträts den künstlerischen Werdegang vor Augen führt. Der Film mit vornehmlich dunklen Innenaufnahmen birgt von den Geschwistern bis zu August Strindberg einen wahren Kosmos von Persönlichkeiten aus Munchs Familie und seinem Umkreis. Einige Gemälde von Edvard Munch, der enge Beziehungen nach Lübeck unterhielt, befinden sich im neueröffneten Lübecker Museum Behnhaus.
Die Rückschau „Lichtmagie und Farbenzauber“ widmete sich auch dem ewig verkannten norwegischen Künstler Aksel Waldemar Johannessen, der 1880 im Armenviertel von Oslo namens Hammersborg geboren, ein Zeitgenosse von Edvard Munch ist und künstlerisch durchaus in seiner Liga spielt. Beide sind Expressionisten und lebten zudem nur einige Kilometer auseinander. Johannessens Bilder wurden nach seinem Tod überhaupt erst ausgestellt. Der bedeutende norwegische Kritiker Jappe Nilssen, Entdecker und bester Freund Edvard Munchs, schrieb über ihn: „…ich erinnere mich kaum ähnliches in der nordischen Malerei gesehen zu haben.“ Munch selbst sagte: „…heute werden keine besseren Bilder gemalt“. Johannessen geriet in Vergessenheit bevor er überhaupt eine Chance gehabt hat, bekannt zu werden. Er wurde erst 1990 durch den Kunstsammler Haakon Mehren wiederentdeckt. Das Theaterstück „Der vergessene Maler“ von Alexander Kratzer, uraufgeführt 2011 mit Harald Bodingbauer als Aksel W. Johannessen und Thomas Schächl als Haakon Mehren unter der Regie von Andreas Baumgartner macht die Geschichte der Wiederentdeckung lebendig so wie es auch der Dokumentarfilm von Nils Gaup „Bilder fra et nordisk drama“ in dieser Reihe zum Ziel hat. Die Dokumentation aus dem Jahre 2021 zeigt die 30 Jahre lang andauernden Bemühungen, diesen zu Unrecht vergessenen norwegischen Expressionisten an die Wände des Nationalmuseums in Oslo und somit in den offiziellen Museumskanon zu bringen. (Vergleiche meine Besprechung im Dezember-HERZOG 2022, Seite 57)
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