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Die Illusion der Selbstverständlichkeit

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„Natürlich!“ oder „Selbstverständlich!“. Das wäre wohl die spontane Antwort, die man von seiner Ehefrau oder –mann erwarten würde, wenn man angesichts einer lebensbedrohenden Gefahr nach Unterstützung fragen würde. Doch was so einfach und selbstverständlich erscheint pulverisiert im Nu die Fassade einer jeden bürgerlichen Lebensgemeinschaft. Kaum zu glauben? Den Beweis hierzu erbrachte das Theaterstück „Die Niere“ von Stefan Vögel.

In drei Aufführungen durften die Gäste der Bühne ’80 erleben, wie schnell sich als sicher und verlässlich eingeschätzte Beziehungen in Zweifel und Scheinheiligkeit auflösen können. Es darf als sicher gelten, dass diese hervorragend inszenierte Komödie sein Publikum inspiriert hat, die eigene Haltung und das eigene Wertedenken zu hinterfragen. Wie weit reichen Liebe und Loyalität der Menschen, auf die wir uns verlassen? Regisseurin Marianne Sery inszenierte zum zweiten Mal ein Vier-Personen-Stück, in dem als Spielstätte eher klein und kompakt wirkenden Kulturbahnhof. Doch gerade in diesem Umfeld entfaltete sich erneut die ganze Komplexität der Beziehungen zweier Paare bis hin zu einer emotionalen Implosion. Und mittendrin schien sich das Publikum quasi auf Augenhöhe zu den Protagonisten zu befinden. Mehrfach wechselten Sympathie und Antipathie für die einzelnen Figuren.

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Dabei fing alles ganz harmlos an. Der weltmännische und erfolgreiche Architekt Arnold (Dieter Niessen) freut sich darauf, den Abschluss eines visionären Großauftrags mit seiner Frau Kathrin (Bettina Niessen) und dem befreundeten Ehepaar Diana (Sarah Aubel) und Götz (Christoph Fischer) zu feiern. Doch die gute Stimmung schwindet rasch als Kathrin bei ihrer Rückkehr von einer Routineuntersuchung ihrem Mann eröffnet, dass sie an einer Niereninsuffizienz leidet. Nachdem sich der erste Schreck und der Ärger über die vermeintlich schlechte medizinische Betreuung durch den gemeinsamen Hausarzt gelegt hat, löst die Frage Kathrins an ihren Mann, ob dieser ihr eine Niere spenden würde, den emotionalen Zersetzungsprozess des Verhältnisses aus. Das offensichtliche Zögern Arnolds, das Abwägen der gesundheitlichen Risiken für seine eigene Person und das ständige Ausweichen vor einer klaren Positionierung frustriert Kathrin erkennbar. Die Situation bessert sich auch nicht mit dem Erscheinen der nacheinander eintreffenden Freunde Diana und Götz. Während Arnold Verständnis und Unterstützung durch Apothekerin Diana erfährt (und nebenbei auch noch Kenntnis von einem amourösen Abenteuer der energischen Diana mit seinem Geschäftspartner Tim hat), überrascht der gutmütige Götz einige Zeit später mit der Zusicherung, Kathrin mit freundschaftlicher Selbstverständlichkeit eine seiner eigenen Nieren spenden zu wollen. Die Geschwindigkeit des Gefühlskarussels nimmt dramatisch zu als Kathrin einen Anruf erhält und die Nachricht verkündet, im Labor habe man die Untersuchungsergebnisse vertauscht. Nicht sie sondern ihr Mann Arnold benötigt ein Spenderorgan. Diese neue Situation löst emotionale Fliehkräfte aus, die die langjährigen Beziehungen der vier Protagonisten völlig durcheinander wirbeln.

Am Ende stehen alle vor den Trümmern ihrer jeweiligen Beziehungen, nichts ist noch so wie es einmal schien. Doch die vermeintliche Verliererin Kathrin entpuppt sich als Gewinnerin. Denn tatsächlich ist sowohl sie als auch ihr Ehemann kerngesund. Mit der künstlich geschaffenen Situation wollte sie dessen wahren Charakter aufdecken und entlarven. Und das ist ihr gründlich gelungen – auch im Falle des Ehepaars Diana und Götz.

Marianne Sery hat das Stück konsequent durchinszeniert. Ernste Fragen werden dem Publikum humorvoll und manchmal auch absurd präsentiert. Stringentes Tempo, sich ständig ändernde Situationen getragen von einem ausgeglichenen Ensemble ließen das Publikum bis zum Ende in Ungewissheit über das Schicksal der Akteure. Dieter Niessen gelang es in besonderem Maße, die Verwandlung des selbstsicheren und erfolgreichen Architekten in einen von Ängsten und Selbstzweifeln geplagten Mann glaubhaft und voller Spielfreude zu verkörpern. An seiner Seite konnte Bettina Niessen mit der umgekehrten Entwicklung überzeugend brillieren. Flankiert wurde das Paar von den nicht weniger überzeugenden Sarah Aubel und Christoph Fischer. Beide wussten die wilde emotionale Achterbahnfahrt ihrer beiden Figuren authentisch zu verkörpern.

Das Ensemble wurde für seine geschlossene und überzeugende Leistung mit lang anhaltenden verdienten Applaus belohnt. Regisseurin Marianne Sery gelang es erneut, mit einem reduzierten Bühnenbild auf kleiner Fläche durch völlige Konzentration auf Darsteller und Geschichte das Publikum zu fesseln. Es bleibt zu hoffen, dass sich mit der Darbietung solcher auf wenige Charaktere konzentrierter Stoffe dauerhaft eine weitere jährliche Inszenierung der im Jülicher Kulturleben fest verankerten Bühne ´80 neben den regelmäßigen Aufführungen im Frühjahr etabliert.

Im kommenden Jahr dürfen sich die Theaterfreunde auf die „Eingeschlossene Gesellschaft“ von Jan Weiler freuen. Die Gesellschaftssatire wird fünfmal zwischen dem 14. und 21. März 2026 im Mädchengymnasium Jülich und im Rahmen eines Gastspiels am 26. April 2026 im Haus der Stadt Düren aufgeführt.


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