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„Für sie ist Krieg keine Erfahrung“

Klaus Kenke könnte man durchaus als Aktivisten bezeichnen. Dafür nutzt er keinen Klebstoff, Kletterausrüstung oder Ketten, sondern Schriften, Gespräche, Erinnerung und Briefe an die Politik.

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Klaus Kenke. Foto: Mira Otto
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Der pensionierte Pfarrer und – seit einigen Jahren – der Friedensbeauftragte des Kirchenkreises Jülich fühlt sich aufgrund der deutschen Vergangenheit dazu verpflichtet zu sorgen, dass nie wieder Krieg von Deutschland ausgeht. Auch, weil er der „letzten Generation“ zugehörig ist, die den Krieg in Deutschland noch selbst miterleben musste – im Kindesalter. Menschen, die den Krieg ebenfalls miterlebt haben, scheint es ähnlich zu gehen. Nach der Veröffentlichung eines Interviews im Gemeindebrief habe ihm eine 94 Jahre alte Dame aus Merzenich geschrieben. In dem Brief habe gestanden, dass auch sie sehr viel im Krieg erfahren habe. Man müsse doch zusammenhalten. „Dieser Brief hat mich sehr bewegt, und ich habe zum Telefon gegriffen und mich bedankt.“ sagte der Pfarrer. „Kriegserfahrung lässt einen nicht mehr los und führt zu einer anderen Haltung. Diese Erfahrung haben die jüngeren Politiker und Politikerinnen noch nicht gemacht.“

Dem Friedensbeauftragten wohnt ein besorgtes Interesse für das weltweite Kriegsgeschehen inne. Rund um den 79-jährigen liegen zahlreiche ausgedruckte Artikel, abgeschriebene Twitter-Posts und Bücher. Darunter beispielsweise „Der bedrohte Friede“ von Carl Friedrich von Weizsäcker, Kolumnen von Heribert Prantl oder ein Zitat von Stefan Zweig aus „Die Welt von gestern“. Kenke zieht aus dem Papierwust eine Rede von Lars Klingbeil, einem der beiden Bundesvorsitzenden der SPD, mit dem Titel „Zeitenwende – der Beginn einer neuen Ära“ hervor. Kenke liest vor: „Es bleibt dabei enorm wichtig, dass wir als Westen eng zusammenstehen: ein starkes Europa als Kern, aber in engem Schulterschluss mit den USA, dem Vereinigten Königreich, Australien, Japan und anderen. […] Dabei kommt es ganz viel auf Deutschland an. Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben. Nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung hat Deutschland heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem.“ Den letzten Satz liest er nochmal vor. „Ich bin erschrocken über die Geschichtsvergessenheit junger Politiker. Klingbeil hat diese Rede gehalten am 21. Juni 2022, und am 22. Juni 1941 hat die Deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfallen. Das ist so unsensibel und geschichtslos. Wenn ich dann das lese mit der Zurückhaltung, dann bin ich erstmal sprachlos..“

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Um zu verstehen und zu erinnern, liest Kenke viel und gibt Texte auch an andere mit Empfehlung weiter. „Es ist ja so, dass man viele Quellen lesen muss, um Bescheid zu wissen“, sagt er hierzu. Zu seinen Aufgaben gehöre es entsprechend auch, Menschen auf wichtige Schriftstücke aufmerksam zu machen. Wie das Friedensgebot des Grundgesetzes zum Beispiel.

Besonders beschäftigt ihn das Erbe des 2014 verstorbenen Juristen Hans-Peter Kaul, welcher den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag mit in das Leben gerufen hat und dort auch Richter war. 20 Jahre hat er für dieses Gericht gekämpft. Und dann ist er gefragt worden: „Was hat Sie angetrieben?“ Und er hat darauf geantwortet: „Die Erlebnisse der unglaublichen, ich betone das ausdrücklich, der unglaublichen faktischen und moralischen Katastrophe, die Deutschland über die Welt und über sich selbst gebracht hat.“ Das ist der Grund, der auch mich antreibt.

Dass Deutschland sich nun dazu entschieden hat, für Verteidigung gegen den russischen Angriffskrieg Panzer in die Ukraine zu schicken, sieht er kritisch. „Ehrlich gesagt, bin ich entsetzt. Sie sehen selbst, wie sich die Eskalationsschraube immer weiterdreht. Kaum sind die Panzer verschickt, wird schon nach Kampfflugzeugen geschrien.“

Gleichzeitig verstehe er die Angst davor, dass die russischen Truppen immer weiter Richtung Westen ziehen werden. „Aber was ist denn die Lösung, außer eine diplomatische auf dem Wege des Rechts? Gewalt ist keine.“ Mittlerweile sei der Konflikt bereits so weit eskaliert, dass man sich in einer fast ausweglosen Situation befände. „Das Tragische ist, dass in diesem Krieg junge Menschen zu Massen geopfert werden, die diesen Krieg nicht zu verantworten haben. Das sei das Perverse an diesem Krieg: Nicht die Leute, die den Krieg befördern, müssen kämpfen, sondern andere.

Kenke macht an dieser Stelle auch auf den Artikel 51 der UN-Charta aufmerksam:

„Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.“

Besonders der letzte Nebensatz ist Kenke wichtig. „Ich werfe vor, dass niemand versucht hat, die zweite Bedingung dieses Artikels in Erwägung zu ziehen. Ich glaube nicht, dass es auf Dauer durch die Waffenlieferungen in der Ukraine zu einem Frieden kommt“, sagt Kenke. Er sei enttäuscht, dass niemand im Sicherheitsrat auch nur ansatzweise versucht habe, einen diplomatischen Weg zu finden zur Wahrung des Weltfriedens. Frankreich und Deutschland wären prädestiniert gewesen, gemeinsam eine Lösung zu erarbeiten.


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