Die Sonne scheint, die erste Ferienwoche ist angebrochen, alle Schulhöfe sind verwaist – und im Science College auf dem Campus von Haus Overbach in Barmen herrscht Hochbetrieb. 50 Jugendliche wuseln durch die Gänge, diskutieren die Statik von Brücken, falten konzentriert fragile Papiergebilde und schreiben lange – und für den Laien äußerst kompliziert anmutende – mathematische Formeln auf das Smartboard an der Wand. „Grundstoff aus dem Bachelor-Studium Bauingenierwesen“, grinst der Dozent.
Grund für die ferien-untypische Betriebsamkeit ist die sogenannte Sommerwerkstatt im Rahmen des „Victor Rolff Stipendiums für Schülerinnen und Schüler Open Minds“. „Das Programm soll Horizonte öffnen und den Jugendlichen die Gelegenheit geben, über Fachthemen hinaus Perspektiven einzunehmen“, erläutert Na Young Shin-Vogel, die als Bildungsreferentin bei der Stiftung die Fäden zusammenhält.
Das Stipendienprogramm richtet sich an Jugendliche „aus der Region“ (sprich: dem Regierungsbezirk Köln), die jenseits von Fachgrenzen ihr Interesse an Naturwissenschaften, Technik, Kunst und gesellschaftlichen Fragen entdecken wollen. Angelaufen ist das noch recht junge Programm im Januar 2023, als die ersten Schülerinnen und Schüler in ihr „Open Minds“-Programm gestartet sind. Zwei Jahre lang werden die jungen Leute im Rahmen des Stipendiums gefördert und gefordert. Mehrere Ferien- und Wochenend-Workshops, Exkursionen und Vorträgen gehören zum Angebot, darunter die Sommerwerkstatt im Overbacher Science College.
In diesem Jahr ist Papier das Oberthema. „Wir haben das Thema gewählt, weil es hier in der Region zum einen sehr viel Papierindustrie gibt, aber auch, weil es so viel bietet. Viel mehr als nur Naturwissenschaften“, erklärt Nataliya Danylyuk, am Science College zuständig für die Stipendienkoordination und die Organisation der Werkstatt-Tage.
Vier verschiedene Aspekte haben die Jugendlichen in ihren fünf Tagen in Barmen genauer angesehen. „Wir mussten ein paar Richtungen vorgeben“, schmunzelt Danylyuk und schiebt hinterher, dass das Programm sonst zu umfangreich geworden wäre.
Wie kommt man „Von der Faser zur Zukunft“ lautete die Fragestellung in einem Workshop, der sich mit der Wiederverwertbarkeit von Papier und Pappe befasste. Klingt dröge? Scheint auf den ersten Blick auch genauso: Beim Betreten des Raumes beugen sich etwa 12 Jugendliche über ihr Smartphone und tippen schweigend darauf herum. Wer nun denkt, die 14 bis 18jährigen würden gelangweilt die Zeit absitzen, irrt gewaltig. Sie testen vielmehr die nagelneue App, die der Kölner Lennart Sojka während der Sommerwerkstatt „mal eben“ programmiert hat. Rund vier bis fünf Stunden „aktive Arbeitszeit“ habe er gebraucht, um die Müllsortier-App „TRashmania“ zu entwickeln, schätzt der Schüler.

„Ist es schlau, das so zu machen?“ „Sind nicht Röhren besser?“ Einen Raum weiter wird angeregt diskutiert, wie sich die Statik von Brücken verbessern respektive überhaupt erst erreichen lässt. „Papier baut Brücken – Statik trifft Kreativität“, so der Workshop-Titel. Mithilfe simplen weißen Papiers testen die Jugendlichen verschiedene Techniken, simulieren Zug, Druck und Scherkräfte und übertragen so die mathematischen Berechnungen vom Smartboard in die praktische, kreative Anwendung. Anleitung oder Moderation des Dozenten scheinen unnötig, man einigt sich, gibt gegenseitige Anweisungen oder Hilfestellung. Auch die inhaltliche Ausgestaltung der Workshops wird von den Jugendlichen mitbestimmt. So sind physikalische und mathematische Berechnungen auf Wunsch der Teilnehmenden aus dem letzten Jahr hinzugekommen. „Die Jugendlichen haben sich mehr Mathematik gewünscht“, freut sich Physikerin Nataliya Danylyuk.

Ganz anders, aber doch artverwandt, ist der Schwerpunkt, den Mareile Tempel setzt. „Form folgt Faser“ heißt es bei der Designerin, die den kreativen Aspekt von Papier in den Mittelpunkt rückt. Große Ziele haben sich die Teilnehmenden für die Woche gesetzt und wollen, dem Beispiel des „Room in a box“-Betts folgend, ein Möbelstück aus Papier entwerfen. Dass dabei auch statische Berechnungen eine Rolle spielen, leuchtet schnell ein.
Im vierten Workshop schließlich gehen Chemie, Biologie und Geschichte eine ganz besondere Verbindung ein. „Bewahren, was bleibt“ ist dieses Angebot überschrieben, das in Zusammenarbeit mit dem Jülicher Stadtarchiv und dem Museum Zitadelle entstanden ist. Vor Ort haben sich die Jugendlichen bei Archivarin Susanne Richter Bücher in „unterschiedlichen Erhaltungszuständen“ ausleihen dürfen. „Handschuhe anziehen“, mahnt die junge Frau, die ihren interessierten Zuhörerinnen und Zuhörern zusammenfasst, welche Gefahren einem Buch durch falschen Umgang drohen können. Schimmelpilze, Wasser, Säuren, die Liste der Bedrohungen für die historischen Kostbarkeiten ist lang.

„Am besten arbeiten wir alle zusammen, dann geht es schneller“, fordert eine Teilnehmerin während des Workshops ihre Mitstreiter auf und fasst damit zusammen, was diese Sommerwerkstatt so besonders macht. Nicht nur die thematische Vielfalt, auch die Art des Umgangs, des „sich-Raum-Gebens“, wie es Shin-Vogel zusammenfasst, führen dazu, dass die Jugendlichen hier tatsächlich die Gelegenheit erhalten, den eigenen Horizont zu erweitern.
Mehr zum Stipendienprogramm auf der Seite der Stiftung und auf der Seite des Science College.