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Ansprache zum 80. Jahrestags der Reichspogromnacht in Jülich

von Bürgermeister Axel Fuchs

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Axel Fuchs. Foto: tee
Axel Fuchs. Foto: tee
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Meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich begrüße Sie zu unserer gemeinsamen Gedenkveranstaltung anlässlich des 80. Jahrestages der Reichspogromnacht hier im großen Sitzungssaal des Rathauses der Stadt Jülich. Zahlreiche Schulen, Vereine, Initiativen, Kirchen und Einzelpersonen haben sich zusammengefunden, um ein umfangreiches Programm zu gestalten, das angesichts der Ereignisse vor 80 Jahren erinnert, gedenkt und mahnt.

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Hier im großen Sitzungssaal schlägt heute das Herz der Demokratie in Jülich und deshalb war es mir wichtig, dass wir hier unser Gedenken beginnen. Erinnern wir doch gemeinsam an eine der beschämendsten Stunden der jüngeren deutschen Geschichte, die eine erschreckende, neue Stufe der Eskalation der nationalsozialistischen „Judenpolitik“ darstellte. Die systematische Ausgrenzung, Entrechtung und letztliche Ermordung von Bürgerinnen und Bürgern jüdischen Glaubens während des Nationalsozialismus ist das genaue Gegenteil von dem, was wir heute in unserem Rechts- und Verfassungsstaat Bundesrepublik Deutschland leben und vorleben dürfen. Die Schändung und Zerstörung von Synagogen in ganz Deutschland, die Gewalt gegen Juden und ihren Besitz, fand in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 statt – und das auch in Jülich.

In unserer Stadt Jülich hatte sich seit dem 19. Jahrhundert eine lebendige jüdische Gemeinde gebildet. Der Bau einer eigenen Synagoge, die 1862 eingeweiht wurde, stellte einen Höhepunkt in der damals noch jungen Emanzipationsgeschichte der Juden dar. Begonnen hatte diese in der Zeit des aufgeklärten Absolutismus im 18. Jahrhundert, als die Landesherren die Anwesenheit von Familien jüdischen Glaubens wieder genehmigten.

Nur zur Erinnerung, unter dem aus Jülicher Sicht bedeutenden Herzog Wilhelm V. von Jülich-Kleve-Berg, genannt der Reiche, war es Juden verboten, in den Vereinigten Herzogtümern und damit auch in Jülich zu leben. Die rechtliche Gleichstellung aller Bürger infolge der Französischen Revolution umfasste auch die Bürger jüdischen Glaubens. Dieses Recht setzte schließlich Napoleon in den linksrheinischen Gebieten um, als diese Teil des französischen Staates waren. Die Gleichstellung hatte eine erhebliche integrative Kraft, wenngleich sie noch nicht vollständig war. Erst das in preußischer Zeit 1847 erlassene Gesetz „Die Verhältnisse der Juden betreffend“ gewährte den Juden Freizügigkeit und das passive Wahlrecht auf kommunaler Ebene. Nun zogen verstärkt Familien jüdischen Glaubens in die Städte, während das in der Frühen Neuzeit entstandene sogenannte Landjudentum auf den Dörfern mehr und mehr an Substanz verlor. Dies kann man gut an Jülich und seinem Umland sehen. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1911 stieg die Zahl von Mitbürgern jüdischen Glaubens kontinuierlich von 72 auf 178, um danach wieder zu sinken. Die antijüdischen Repressionen des NS-Staates führten dazu, dass 1939 nur noch 52 Juden in Jülich lebten.

Auf dem Weg zum Holocaust stellte die Reichspogromnacht ein Fanal dar, das die letzten Nischen, die sich das jüdische Leben in Deutschland bewahrt hatte, ein Ende fanden.

Am Beispiel des Sports zeigt unser Museum in einer Blickpunktausstellung ab dem kommenden Sonntag eindrucksvoll die Vitalität jüdischen Lebens auch unter erschwerten Bedingungen in Jülich bis 1938.

Die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 nahm in Jülich ihren Ausgang auf der Feierstunde anlässlich des misslungenen Hitlerputsches von 1923. Diese reichsweit stattfindende Veranstaltung bekam in Jülich eine besondere Note dadurch, dass man hier zudem des Todes eines Nationalsozialisten gedachte, der am 24. Juli 1932 von Kommunisten in der Hubertusstraße (heute ein Teilstück der Großen Rurstraße) ermordet worden war. Die sogenannten „Blutzeugen der Bewegung“ spielten im Totenkult des Nationalsozialismus eine herausragende Rolle. Geschickt wusste die Parteileitung, die sich zu diesem Zeitpunkt in München aufhielt, die Stimmung zusätzlich aufzuheizen: Es wurde nämlich bekanntgegeben, dass der Botschaftsrat des Deutschen Reichs an der Pariser Botschaft, Ewald vom Rath, verstorben war. Er war Verletzungen erlegen, die Folge des Attentats waren, das bereits zwei Tage zuvor der polnische Jude Herschel Grynszpan auf ihn verübt hatte. Grynszpan hatte damit auf das Schicksal seiner Eltern und seiner Geschwister aufmerksam machen wollen, die zusammen mit zehntausenden anderer Polen von den deutschen Behörden in einer Unrechtsaktion unter menschenunwürdigen Umständen in das Niemandsland zwischen Polen und Deutschland bei Bentschen südwestlich von Posen zwangsdeportiert worden waren. Ein Umstand, der in der damaligen Berichtserstattung selbstredend keine Rolle spielte.

Die Ereignisse um die Schändung der Jülicher Synagoge in der nun folgenden Nacht lassen sich nur unvollständig rekonstruieren.

Die Ritualgegenstände waren vor der Zerstörung weitgehend beschlagnahmt worden und zur Jülicher Polizeistation verbracht worden. Sie sollen später in einem Lehmloch in der Jan-von-Werth-Straße entsorgt worden sein.

Die Misshandlung von Emil Hertz und seiner Frau in der Kristallnacht wurde 1949 gerichtlich verfolgt, der Angeklagte aber wegen mangelnder Beweise und widersprüchlicher Zeugenaussagen freigesprochen.

Der später erst dokumentierte Widerstand des evangelischen Pfarrers Hermann Barnikol blieb ohne Wirkung.

Evi Pracht stellte richtigerweise fest, dass „an den Ausschreitungen … sich nicht nur NS-Funktionsträger, sondern auch ‚ganz normale‘ Bürger beteiligt“ haben. „Einen Tag nach dem Synagogenbrand führte der Lehrer und Ortsgruppenschulungsleiter Felix C. seine Schüler zu dem ehemaligen jüdischen Gotteshaus und veranlasste sie, Steine auf die vor dem Gebäude liegenden Trümmer der Inneneinrichtung zu werfen.“

Dieses Verhalten ist durchaus typisch, was der Historiker und Antisemitismusforscher Wolfgang Benz noch jüngst in der Wochenzeitung „Die Zeit“ (Nr. 45, 31.10.2018) so kommentierte:

„Viele Bürger waren zu Gewalttätern geworden, was zeigte, wie dünn der Firnis der Zivilisation jeder bürgerlichen Wohlanständigkeit aufgetragen ist.“

Der 1998 dokumentierte Bericht des Zeitzeugen Josef Lenzen aus Titz-Rödingen ist in diesem Zusammenhang besonders bemerkenswert. Er gibt an:

„Mit dem Fahrrad fuhr ich über den Patterner Weg (heute ist das die Haubourdinstraße) in die Innenstadt. Unterwegs traf ich Sigismund Horn mit seinem Sohn Walter. Sigismund rief ganz aufgelöst: ‚Wir müssen weg‘. An der Wohnung Dr. Hertz in der Kurfürstenstraße lag Porzellan auf der Straße. Bürgermeister Kintzen forderte mich auf, zur Synagoge zu gehen. ‚Die soll brennen. Du bist nicht in der Partei. Geh mal gucken!‘ Ich ging zur Synagoge. Ich bin auch drinnen gewesen. Die Sachen aus der Synagoge lagen draußen und brannten. Vielleicht haben auch einige Sachen in der Synagoge gebrannt. Die Synagoge hat jedenfalls nicht gebrannt.“

Die nach den Ereignissen vom November 1938 ungenutzte Synagoge wurde demnach erst beim Alliierten Luftangriff vom 16. November 1944 schwer beschädigt. Trotzdem standen noch nach 1945 beachtliche Teile des Außenmauerwerks, die erst 1958 im Zuge des Baues eines Wohnblocks verschwanden!

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft kam nicht von innen heraus, sondern musste von außen erzwungen werden. Der Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg über Deutschland bedeutete die Befreiung vom Nationalsozialismus. Er ebnete den Weg zur Demokratie, wenn auch für mehr als 40 Jahre nur für einen Teil Deutschlands und unter Verlust erheblicher Gebiete im Osten Europas. Wenn heute in der Geschichtswissenschaft die Ursachen für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs diskutiert werden und eine Mitschuld aller Beteiligten festgestellt wird, gilt dies für den vom nationalsozialistischen Deutschland heraufbeschworenen Zweiten Weltkrieg nicht.

Das Eingeständnis, dass die Herrschaft des Nationalsozialismus so erfolgreich sein konnte, da sie weite Teile der Bevölkerung aller Regionen Deutschlands durchdrungen hatte, ist aus lokaler Perspektive schmerzlich. Die Stadt Jülich bildete hier keine Ausnahme, keine „Insel der Seligen“, sie war vielmehr Teil des Unrechtssystems des Dritten Reiches. Die systematische Entrechtung der Juden fand hier ebenso statt, wie die Ausbeutung von Zwangsarbeitern und die Verfolgung politisch Andersdenkender. Und insoweit ist die Zerstörung der Stadt am 16. November 1944 durch alliiertes Luftbombardement auch kein Schicksalsschlag, der aus dem Nichts erfolgte, sondern die Folge des von Deutschland ausgehenden Krieges, der mit aller Härte eben auch nach Jülich zurückkehrte.

Es ist mir ein besonderes Anliegen, an die Ereignisse vor 80 bzw. 74 Jahre nicht eindimensional zu erinnern, sondern aus verschiedenen Perspektiven.

Was meine ich damit? Ich meine damit, dass wir nicht oberflächlich bei einem „Nie wieder!“ stehen bleiben dürfen, sondern uns der Mechanismen bewusst werden, die eine Schreckensherrschaft wie den Nationalsozialismus möglich machten, um die Wiederkehr eines solchen Systems unmöglich zu machen. Das ist eine gewaltige Aufgabe, die nicht leichter geworden ist. Unsere Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit und muss gegen alle Kräfte verteidigt werden, die ihre Errungenschaften in Frage stellen.

Aleida und Jan Assmann, die diesjährigen Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, haben es in ihrer Dankesrede wie folgt auf den Punkt gebracht:

„Es muss unstrittige Überzeugungen und einen Grundkonsens geben wie die Verfassung, die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit des Rechts und die Menschenrechte. Nicht jede Gegenstimme verdient Respekt. Sie verliert diesen Respekt, wenn sie darauf zielt, die Grundlagen der Meinungsvielfalt zu untergraben. Demokratie lebt nicht vom Streit, sondern vom Argument.“

Gerade letzteres scheint in der aufgeheizten Stimmung politischer Debatten in der jüngsten Zeit in Vergessenheit zu geraten. Wir müssen alles daran setzen, dass hier, an diesem Ort niemals Kräfte Einzug halten, denen man diese Mahnung entgegenhalten muss!

Und auch das mahnende Erinnern an die bedrückendsten Stunden deutscher Geschichte darf nicht infrage gestellt werden – auch wenn wir um die angemessene Form immer wieder neu ringen müssen. Denn, wieder das Ehepaar Assmann zitierend, „die Nation ist kein heiliger Gral, der vor Befleckung und Entweihung – Stichwort ‚Vogelschiss‘ zu retten ist, sondern ein Verbund von Menschen, die sich auch an beschämende Episoden ihrer Geschichte erinnern und Verantwortung übernehmen für die ungeheuren Verbrechen, die in ihrem Namen begangen wurden. Hier ist ein wichtiger Unterschied zu beachten: beschämend ist allein diese Geschichte, nicht aber die befreiende Erinnerung an sie, die wir mit den Opfern teilen.“

Und nochmals auf Wolfgang Benz zurückkommend:

„Die Erkenntnis aus den Novemberpogromen darf deshalb nicht nur darin bestehen, den bis heute virulenten Antisemitismus zu bekämpfen und an das Leid der jüdischen Minderheit wie an die Untaten der christlichen Mehrheit zu erinnern. Die Lektion ist erst begriffen, wenn die Diskriminierung aller Minderheiten, sei es wegen ihrer Religion oder Kultur, ihrer Herkunft, ihrer sozialen Situation oder ihrer sexuellen Orientierung und Identität, geächtet ist.“

Meine sehr verehrten Damen und Herren, am 14. März 1946 fand um 15.00 Uhr in einem Schulsaal der weitgehend unzerstört gebliebenen Berufs- und Handelsschule in der Düsseldorfer Straße die erste Sitzung des neu eingeführten Rates der Stadt Jülich statt. Die Mitglieder des Stadtrates waren von der britischen Militärregierung berufen worden. Die erste freie, gleiche und geheime Abstimmung über den Rat wurde am 15. September 1946 durchgeführt. Damit begann dann die demokratische Grundordnung in der Stadt Jülich tatsächlich.

Der Ortskommandant der Militärregierung, Oberst Richardson, hat bei der Eröffnung der Ratssitzung am 14. März 1946 eindrucksvolle Worte gefunden, die nichts an Aktualität verloren haben und mit denen ich deshalb meine Ansprache schließen möchte:

„Eine Demokratie sollte in erster Linie eine bestimmte Geistesrichtung sein, eine grundsätzliche Einstellung und nicht eine wirtschaftliche Struktur oder eine politische Maschine. Diese Einstellung schließt gewisse Grundsätze ein, nämlich die, dass das Recht der Persönlichkeit unantastbar ist, was den Sinn der Freiheit ausmacht. Ferner, dass Politik durch freie Aussprache erledigt werden soll…
Aber wenn die Demokratie in Ihrem Land Wurzeln fassen soll, ist es wesentlich, dass das politische Leben in Deutschland wieder auflebt. Ebenso wichtig ist es für die Bevölkerung, an den tagtäglichen Ereignissen der örtlichen Regierung Anteil zu nehmen. Es ist die Pflicht jedes Gemeindevertreters, der Bevölkerung in dieser Hinsicht zu helfen und ihr das Bewusstsein für ihr Bürgertum zu vermitteln. Ich würde es sehr gerne sehen, wenn die jungen Leute wieder Interesse an der Sache hätten, und hoffe, dass die politischen Führer ihr Bestes tun werden, die Jugend in dieser Hinsicht zu ermutigen. Gegenwärtig sehe ich keine Anzeichen dazu und bedauere, dass ich keinen jungen Vertreter zu diesem Gemeinderat habe ernennen können.
Ich hoffe, dass Sie zu den Wahlen auch jüngere Vertreter als Kandidaten aufstellen werden.“

Wie ich finde, starke Worte, die uns heute, 72 Jahre danach, noch nachdenklich stimmen sollten.

Ich lade Sie nun zum Gedenken am ehemaligen Standort der Jülicher Synagoge und danach am Mahnmal für die ermordeten Juden des Jülicher Landes auf dem Propst-Bechte-Platz ein. Nehmen Sie bitte auch die anderen Aktivitäten unseres Gedenkreigens wahr – vor allem die Aktionen der weiterführenden Schulen am Nachmittag des 23. Novembers.

Einen herzlichen Dank sage ich
dem Streicher-Ensemble des Gymnasiums Zitadelle
(„Theme from Schindlers list“) und
dem Chor des Mädchengymnasiums Jülich
(„We are the world“).

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!


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