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Das Fehlen als Lücke wahrzunehmen, tut gut

Predigt zum ökumenischen Gottesdienst an Karfreitag von Pfarrer Udo Lenzig.

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Pfarrer Udo Lenzig. Foto: Hacky Hackhausen
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Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Mit diesem Gebet, mit diesem Schrei der Verzweiflung stirbt Jesus am Kreuz.
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Der verzweifelte Aufschrei des Gekreuzigten ist auch ein Hilferuf derer,
die Gott in ihrer Not suchen und ihn nicht finden können,
die nach ihm rufen und vergebens auf eine Antwort warten,
die IHN zu verlieren drohen, weil sie glauben, dass ER sie bereits verloren hat.

Angesichts der Schreckensnachrichten und der persönlichen Einschränkungen, die uns Tag für Tag zugemutet werden, brennt vielen von uns die bange Frage auf der Seele: Wo ist Gott – in dieser Zeit?

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Bestimmte christliche Gruppen in den USA, aber auch Hierzulande,
sind der festen Überzeugung, das Corona-Virus sei eine Strafe Gottes
für unser zügelloses und gottloses Leben.
Und sie verweisen auf biblische Texte, die genau das erzählen:
Wie ein erzürnter Gott Naturkatastrophen, Krankheiten und Kriege schickt, um die Menschen für ein Fehlverhalten zu bestrafen und zur Umkehr zu bewegen.

Übersehen wird dabei allerdings der Graben, der unsere aufgeklärte Welt von der archaischen Wucht biblischer Erzählungen trennt:
Ebensowenig wie in Blitz und Donner können und sollten wir heute in einem Virus eine Strafe Gottes erkennen.
In beiden Fällen handelt es sich lediglich um eigengesetzliche Naturphänomene.
Aber – um den Gedanken konsequent zu Ende zu denken:
Wie ein Blitzableiter uns heute vor einem Blitzschlag schützt, so rettet uns vor dem Virus im besten Fall die Medizin – und das Abstandsgebot!

Gott hat keine anderen Hände als die unsrigen,
um das Leid auf der Welt zu lindern.
Die Vaterunser-Bitte Dein Wille geschehe bedarf der Fortsetzung: durch uns!
Und welcher Segen davon ausgehen kann, das können wir täglich erfahren,
wo Menschen bis an den Rand der Erschöpfung arbeiten,
um Leid zu lindern und Leben zu retten.

Wo ist Gott in dieser Krise? So fragten wir zu Begin.
Ich möchte die Antwort wagen: Gott ist gegenwärtig –
aber nicht mit starker Hand und ausgestrecktem Arm, sondern – in seinem Wort! Es ist dir gesagt Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, …
heißt es im Buch des Propheten Micha.
Und der Prophet Elia erfährt die Gegenwart Gottes gerade nicht in den Naturgewalten, in Sturm, Feuer und Erdbeben,
sondern im sanften Säuseln des Windes, im Fallen eines Blattes,
im Hören auf sein Wort.
Und deshalb müssen auch wir heute genau hinhören,
wenn wir verstehen wollen, was diese Corona-Krise mit Gott zu tun hat.

Zunächst einmal: Dieser Virus hat es nicht auf uns abgesehen.
Er kennt uns nicht und meint uns nicht. Dieser Virus hat kein anderes Ziel, als durch Vermehrung sein Dasein zu sichern.
Das verbindet ihn mit allen organischen Strukturen auf der Welt.
Dass er dabei seiner Wirtszelle Schaden zufügt ist nicht seine Absicht –
eher seine Tragik.

Hierin ist er uns Menschen gar nicht so unähnlich:
stellen wir uns einmal kurz, sozusagen als Gedankenexperiment, vor,
wir Menschen wären Viren und die Erde wäre unsere Wirtszelle:
Wir vermehren uns übermäßig, verbreiten uns unkontrolliert und fügen dem
Organismus, den wir doch zum Überleben brauchen, immensen Schaden zu. Wie würde die Erde wohl auf uns reagieren?

Und so möchte ich diese furchtbare Corona-Krise,
die unsere Lebensgewohnheiten massiv einschränkt,
die jede Form von Freiheit relativiert
und uns auf uns selbst heilsam zurückwirft,
verstehen wie eine prophetische Mahnrede, wie ein Gleichnis:

Denn diese Krise, so furchtbar sie ist, sie lehrt uns auch etwas Zentrales:
Wir können auf so viel verzichten, können so viele Ressourcen schonen –
und unser Leben immer noch als schön und lebenswert wahrnehmen.
Es geht uns trotz allem noch vergleichsweise gut.
Aber diese Krise zeigt uns auch, dass das nicht selbstverständlich ist,
dass das nicht immer so bleiben muss.
Hätten wir es nicht längst wissen können, wissen müssen?
Bedurfte es dazu Covid 19?

Diese furchtbare Krise, sie lehrt uns auch:
es ist nicht der äußere Reichtum, der unser Leben kostbar macht,
sondern es ist der innere Reichtum, der menschliche Zusammenhalt.
Trotz bzw. wegen der gebotenen physischen Distanz rücken die Menschen in diesen Tagen auf eine besondere Weise sozial näher zusammen,
sind füreinander da in einer Intensität, wie ich sie noch nie erlebt habe:
die Jungen gehen für die Alten einkaufen,
Studierende unterstützen Schülerinnen und Schüler in ihrem Homeoffice,
Staaten helfen einander über ideologische Gräben hinweg
und Pflegepersonal, Mitarbeitende in Supermärkten und Paketzustellende
erhalten für ihren Dienst am Menschen standig ovations –
wann hat es das je gegeben?

Und diese furchtbare Krise, sie lehrt uns als Kirchengemeinde:
Wir sind mehr als ein Kulturverein.
Wir sind – im eigentlichen Sinn des Wortes – Kirche!
Auch wir rücken in diesen Zeiten im Glauben ganz nah zusammen,
suchen neue Formen der Begegnung,
neue Möglichkeiten der diakonischen Unterstützung,
freuen uns über eine offenstehende Kirchentüre,
über das Läuten der Glocken am Abend,
über den Schein einer Kerze im Fenster
und Sehnen uns gleichzeitig nach dem gemeinsamen Gottesdienst,
der Nähe im Abendmahl, der Verbundenheit im Gebet.
Wir wissen und spüren, dass da etwas Wesentliches fehlt.
Das tut weh!
Aber dieses Fehlen als Lücke wahrzunehmen – das tut auch gut!
Das macht Mut!

Als Jesus von Nazareth am Karfreitag vor 2000 Jahren in Jerusalem ans Kreuz geschlagen wurde, da sahen seine Jüngerinnen und Jünger der Katastrophe ohnmächtig von Ferne zu.
Die sog. Emmaus-Jünger bringen ihre Verzweiflung auf den Punkt, wenn sie sagen: Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde.
Aber die Jüngerinnen und Jünger Jesu bleiben bei dieser Verzweiflung nicht stehen, sondern sie Vertrauen weiterhin auf das, was Jesus sie gelehrt hatte:

dass Er der gute Hirte ist, der seine Herde nicht verlässt,
auch und erst recht nicht, wenn der Pfad durch ein finsteres Tal führt.
Und nach drei Tagen erfahren die Jüngerinnen und Jünger:
das Grab ist leer, Christus ist auferstanden, das Leben geht weiter –
und nichts wird mehr sein wie zuvor.

Liebe Gemeinde,
diese Erfahrung wünsche ich uns allen in dieser Karfreitags-Zeit:
Dass Angst und Verzweiflung uns nicht lähmen,
sondern dass wir im Glauben, im Miteinander und im Füreinander
die Gegenwart Jesu Christi neu erfahren.

Ich wünsche uns allen in dieser Karfreitags-Zeit,
dass wir diese Krise gemeinsam überwinden
und aus ihr gestärkt hervorgehen in eine Osterzeit, in der das Leben siegt
und wir hinterher klüger, sensibler und dankbarer sein werden als zuvor.

Ich wünsche uns allen ein gesegnetes Osterfest!

Amen!


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