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Brauchtum „am seidenen Faden“

Bei Preissteigerungen bis zu 70 Prozent blicken die "Zeltlegende Vereine" besorgt in die Zukunft.

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Als Sturmtief "Sabine" das Jülicher Land heimsuchte, stand auf dem Sportlplatz Düsseldorfer Straße ein Festzelt. Foto: Dorothée Schenk
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Er war ein Novum und gleichzeitig ein schrillendes Notsignal für das Jülicher Brauchtum: Der „Runde Tisch“ für die so genannten „zeltlegenden Vereine“, zu dem Dezernent Martin Schulz im Oktober eingeladen hatte. Die KG Bretzelbäckere Mersch-Pattern hatte Alarm geschlagen. Der Verein kann sich in der begonnenen Session wegen gestiegener Preise um 70 Prozent kein Festzelt mehr leisten. Grund genug, sich mal mit anderen Vereinen zusammenzusetzen. Die Bilanz ist ernüchternd: „Das Brauchtum hängt am seidenen Faden“, bilanziert Christian Klems, der in seiner Funktion als Bezirksbundesmeister des Bezirksverbandes Jülich für die Schützen mit neun weiteren Vereinen am Tisch saß, die auf Zelte angewiesen sind.

In kooperativer und freundlicher Stimmung – so Schulz – erhielten die teilnehmenden Vertreter am Tisch die Zusage, dass der Zuschuss der Stadt für die Zeltsaison von 2900 Euro im kommenden Haushalt auf 10000 Euro erhöht würde. Die sehr wahrscheinliche Bewilligung vorausgesetzt, so Schulz. Doch wer nachrechnet, kommt zu dem Ergebnis: hundert bis zweihundert Euro mehr in der einzelnen Vereinskasse wird die Festzelte-Kultur des Brauchtums nicht retten, sondern sind ein Tropfen auf dem heißen Stein.

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Jeder zeltlegende Verein hat seine individuelle Problemlage. Es lassen sich jedoch drei Problembereiche ausmachen, die langfristig mehr oder weniger für alle gelten: Erstens gestiegene Zeltkosten und Preissteigerungen für alles „Drumherum“ von Bewirtung über Personal bis hin zu gestiegenen Energiepreisen und Künstlersozialkassen-Beiträgen für Spitzenkräfte. Zweitens: sinkende Nachfrage beim Kartenverkauf unter anderem dadurch, dass sich die Karnevalsvereine durch immer mehr Großveranstaltungen mit mehr als 1000 Kartenverkäufen selbst Konkurrenz machen. Und drittens: die Konkurrenz-Situation beim Zeltverleih selbst. Die Branche sei in der Region auf drei Marktteilnehmer zusammengeschrumpft weiß Hans-Georg Späth – eine Größe im Zeltverleih mit Sitz in Grevenbroich, der den Markt kennt und auch in benachbarten Kreisen eine ähnliche Situation feststellt, die er mit „sterben auf Raten“ zusammenfasst. Späth hatte selbst Zelte Hochhausen übernommen. Mit dieser Marktentwicklung komme es zu einer Verknappung des Angebots an Zelten. Langjährige Kunden bekommen einen Neuvertrag. Andere Anfragen könne er dann nicht mehr annehmen, erklärt Späth die Situation.

Ganz allgemein hinzu kommen sinkende Beteiligung von Ehrenämtlern, höhere Auflagen für die Sicherheit, höhere Löhne und Auflagen für Beschäftige der Zeltbranche und sinkende Personalstände. Allein für die Zeltabnahme gebe es oft keine Leute mehr, macht Boris Boeckem, erster Vorsitzender und Sessionsprinz der KG Schanzeremmele Stetternich den Ernst der Lage deutlich. Auch die Bewirtungsmodelle ändern sich: „Zelt gegen Zapf“, also das Modell, wo der Zeltverleiher auch die Gastronomie übernehme, sei ein auslaufendes Modell so Boeckem. Zunehmend greife man auf eigene Leute zurück oder müsse zukaufen.

In Jülich kommt noch eine Besonderheit hinzu, die einige Vereinsvertreter als „wettbewerbsverzerrend“ wahrnehmen: Durch die Kultur-Muschel im Brückenkopfpark kommen jetzt einige Vereine in den Genuss, ihre Großveranstaltungen dort zu guten Konditionen und mit feststehenden Genehmigungen abzuhalten: Die KG Bretzelbäckere, Mersch-Pattern hält dort nun erstmals die erfolgreiche „Ladies Night“ ab. Andere zeltlegende Vereine der umliegenden Dörfer müssen alles wie gewohnt stemmen. Und: „Die Stadt hatte ja immer die Stadthalle, die sie zu guten Konditionen mieten konnte. Und jetzt die Muschel“, spricht Boeckem, aus, was andere Vereine denken.

Wie es den Vereinen jeweils geht, könnte man als „Stadien“ hin zum drohenden „Aus“ deuten: Die Vereine KG Maiblömche und die Güstener Schnapskännchen genießen noch die Preissicherheit fester Zeltmietverträge, die es jedoch bald schon nicht mehr geben wird. „Ich werde jetzt gar keine festen Verträge mehr machen. Nur noch zwei Jahre maximal, statt bisher fünf“, bestätigt Zeltverleiher Späth und reagiert damit auf die unkalkulierbaren Rahmenbedingungen. Neben der soliden Vertragsgrundlage kann die KG Maiblömche auf ausreichend helfende Hände, einen guten Sponsoren-Pool und gewisse Rücklagen zurückgreifen – „aber das kann nicht ewig so weitergehen“, räumt Sprecher Dirk Emunds ein. Dass eine der drei Damensitzungen bereits gestrichen und der Vorverkauf der anderen Veranstaltungen zu gestiegenen Preisen schon vor dem Weihnachtsfest begonnen wurde, bestätigt den Wettbewerbsdruck. Emunds appelliert an die Stadt, hier nicht noch mit Auflagen, die nicht zu erfüllen seien, noch eins draufzusatteln. Er malt ein düsteres Szenario: Bei der Preisentwicklung gepaart mit Nachfragerückgang gehe der Karneval zurück in Kneipen und Pfarrsäle, die es aber auch nicht mehr gebe, resummiert Emunds ironisch-bitter. Auch Thomas Beys, Präsiden der Güstener Schnappskännchen räumt ein: „Wenn wir jetzt die Zahlen nicht liefern, bekommen wir 2024 ein Problem. Der Trend beim Kartenverkauf sei allerdings sehr gut. Normalerweise gehe es erst nach Weihnachten los, freut er sich.

Boeckem spricht für den Stetternicher Verein von einer immerhin mäßigen Preissteigerung von etwa zwölf Prozent bei einem guten und langjährigen Kundenverhältnis zum Zeltverleiher. Mersch-Pattern hatte es dagegen am härtesten getroffen: Hier war der Vertrag mit dem Zeltpartner ausgelaufen, ein neuer war unvorteilhafter gestaltet und damit deutlich teurer, erklärt der erste Vorsitzende Ulrich Hintzen. Außerdem ist Mersch-Pattern der einzige Ort, der das Zelt von November an stehen ließ, was den vergleichsweise hohen Gesamtpreis erklärt. 45000 Euro müsse man jetzt für eine Session hinblättern. Früher seien es 30000 Euro gewesen. Mit der „Ladies Night“ müsse man alles reinholen sagt er und rechnet vor, dass dies – auch bei Anmietung der Muschel für die Ladies Night– einfach nicht mehr funktioniert hätte. Andere Vereine hätten Sponsoren oder Senatoren aus der Politik. „Das haben wir alles nicht“ – fasst Hintzen die Situation von Mersch-Pattern zusammen, einem Verein, der noch mit Kräften aus der „zweiten Reihe“ arbeite, wie Hintzen erläutert. Er will weiter kämpfen und wenn die „Ladies Night“ gut laufe, könne auch wieder ein Zelt gelegt werden. Für dieses Jahr ist die Sitzung aber gestrichen.

Von einer Preisverdopplung auf niedrigerem Niveau – von 3500 Euro auf 7000 – spricht auch Klems für die Schützen in Welldorf. Der Ort hatte deshalb in diesem Jahr ein deutlich kleineres Zelt gemietet und an das Vereinsheim angeschlossen. Das habe gut funktioniert, so Klems, der für das Sommerbrauchtum auch die Möglichkeit der Open-Air – Veranstaltungen sieht. Auch das Teilen von Zelten für gemeinsame Veranstaltungen könne eine Lösung sein.

Der Karneval kommt jedoch nicht „oben ohne“ aus – ein Zelt muss her oder die Alternative: Was für den einen Stein des Anstoßes, könnte aus Sicht eines anderen die Lösung sein: die Muschel. Thomas Beys hatte in seiner Funktion als „Der Präsident“ der KG Övverm Bersch im November den Karneval sehr erfolgreich erstmals dorthinein getragen und im Februar feiern dort vier Vereine gemeinsam den Konfetti-Ball. Das könnte Schule machen und eine Möglichkeit sein, den Karneval zu retten – so sieht es neben Beys auch Hintzen: Der Dorfkarneval mit Lokalkolorit könne dann kleiner gefeiert werden und in die Vereinsheime ausweichen. Boeckem hofft für Stetternich derweil auf ein eigenes Dorfgemeinschaftshaus, das man im Rahmen des Dorfentwicklungskonzeptes der Stadt Jülich beantragt habe. „Das DEK werde beim Thema Räumlichkeiten noch Verbesserungen bringen, räumte Schulz ein. Langfristig müssen sich aber alle neue Konzepte überlegen“, fasst er zusammen.


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