Schatten: Sie sind stets da, und doch beachten wir sie kaum. Sie kühlen uns im Sommer, lassen uns frösteln im Winter. Sie folgen uns, fliehen vor uns – und sind voller Bedeutungen. Zwischen Licht und Dunkel liegt ein Zwischenreich, das mehr über uns verrät, als wir glauben. Zeit für einen genaueren Blick in den Schatten.
Schatten – das Wort trägt eine eigentümliche Schwere, eine Ambivalenz in sich. Es ist still und kühl, geheimnisvoll und doch alltäglich. Schatten ist ein physikalisches Phänomen und eine Metapher zugleich. Ohne Licht kein Schatten, das wusste schon Goethe im „Götz von Berlichingen“: „Wo viel Licht ist, ist starker Schatten.“ Und genau darin liegt die Faszination – im Zusammenspiel von Hell und Dunkel, Sichtbarem und Verborgenem, Licht und Dunkelheit und irgendwie auch Gut und Böse.
Der Schatten begleitet uns wortwörtlich auf Schritt und Tritt – und manchmal auch im übertragenen Sinn. Früher glaubte man, der Schatten sei ein Teil des Selbst, ein Abbild der Seele, untrennbar verbunden mit dem Wesen eines Menschen. Wer seinen Schatten verlor – etwa im Volksglauben oder in Märchen – war in Gefahr, sich selbst zu verlieren. Heute klingt das vielleicht naiv, doch die Vorstellung wirkt weiter: Wenn wir sagen, jemand „hat einen Schatten“, meinen wir, da stimmt etwas nicht. Eine gewisse Verrücktheit, eine charmante Schrulle vielleicht oder eine tiefere seelische Irritation. Hat aber im Gegenteil jemand keinen Schatten, so ist er laut Literatur zum Beispiel bei Bram Stoker ein Vampir. Wer keinen Schatten wirft, wandelt nicht mehr unter den Lebenden. Der Schatten als Beweis unserer Existenz – auch das ist eine starke Symbolik. Kleiner Unterschied, der gleich entscheidet, ob man tot ist oder ewig umhergeht.
Dann gibt es da auch noch den „Schattenparker“ – im Allgemeinen gerne belächelt. Ein Ausdruck für angebliche Weichheit oder gar Feigheit. Doch denken wir einmal nach: Wer sein Auto im Schatten abstellt, schützt es vor Hitze, das Lenkrad bleibt greifbar, die Sitze angenehm kühl. Ist der Schattenparker also nicht eigentlich der Clevere? Vielleicht ist der Schattenparker nicht feige, sondern einfach nur vorausschauend und der Schimpfende ein bisschen neidisch wegen der eigenen nicht vorhandenen Weitsicht?
Überhaupt: Schatten können wohltuend sein. Wer einmal an einem heißen Sommertag stundenlang in der Sonne unterwegs war oder lag, kennt das Gefühl, endlich unter einem Baum Platz zu finden, nur zu gut. Ein kleines Schaudern läuft einem über den Rücken – eine Mischung aus Erleichterung und Behaglichkeit. Der Körper atmet auf, die Sinne erholen sich. In solchen Momenten wird der Schatten zum Zufluchtsort. Beschattet werden von einem Baum oder ähnlichem, erstrebenswerter auf jeden Fall als von einem anderen Menschen. Denn nicht jeder Schatten ist willkommen. „Beschattet werden“ kann ja auch bedeuten, dass jemand einem folgt. Nicht aus Fürsorge, sondern mit Argwohn, Misstrauen oder gar feindlicher Absicht. Der Schatten wird hier zur Bedrohung, zur Metapher für Überwachung und Kontrollverlust. Nur für Geheimdienst-Mitarbeitende eine selbst gewählte Notwendig- bis Alltäglichkeit.
Und im Schatten sieht man nicht so gut, besonders bei einbrechender Dunkelheit. In dieser Unschärfe verschwimmen nicht nur Konturen, sondern manchmal auch Menschen. Die sogenannten „Schattenmenschen“. Jene, die am Rand der Gesellschaft leben, vergessen, übersehen, nicht wahrgenommen werden. Ob Obdachlose, Einsame, psychisch Erkrankte: Sie existieren, aber oft nur wie Schemen am Rande unseres Sichtfelds. Der Schatten hier ist kein Schutz, sondern ein Ort der Isolation. Sie alle verschwinden in der Dunkelheit auf der Schattenseite des Lebens.
Ist man nur noch ein Schatten seiner selbst, so leidet der Körper meist unter Krankheit, Trauer oder Erschöpfung. Wenn das Leben schwer wird, zehrt es an der Substanz. Die Kraft verlässt einen, und was bleibt, ist nur noch das blasse Abbild dessen, was einmal war. Der Schatten wird hier zum Symbol für Verlust von Gesundheit, Lebendigkeit, manchmal sogar der ganzen eigenen Identität. Depressionen zum Beispiel lassen das ganze Leben manchmal farblos und gänzlich grau und schattig für die Betroffenen erscheinen.
Und doch: Es ist nicht alles dunkel. Leo Tolstoi schrieb: „Die ganze Schönheit des Lebens besteht aus Licht und Schatten.“ Wir Menschen wissen das Gute, das Licht wohl nur zu schätzen, wenn es im Kontrast steht. Je dunkler die Nacht, desto heller strahlen die Sterne. So ähnlich auch ein Zitat aus einem Romanwerk, dessen Name hier nicht genannt werden soll.*
Oft sagt man auch: „Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus.“ Klingt das zunächst ausschließlich bedrohlich, kann es ja auch durchaus etwas Positives sein. Manchmal kündigt sich etwas Bedeutendes an: eine Entscheidung, ein Wandel, etwas, das das Leben verändert. Wer in solchen Momenten über seinen Schatten springt, wächst über sich hinaus. Er lässt Ängste zurück und betritt neues Terrain. Der Schatten wird zur Schwelle – zwischen dem, was war, und dem, was möglich ist, wenn man sich einfach mal traut. Ein Mutausbruch. Sprichwörtlich ist der Glaube allerdings eher nicht da. Menschen können darin nicht über ihren Schatten springen.
Den Schatten fangen wollen, mit ihm ringen oder boxen, all dies der Kampf um Nichtigkeiten oder gegen nicht vorhandene Feinde. Jemand, der sich vor seinem eigenen Schatten fürchtet, ist ein Angsthase, denn dieser kann uns ja nichts tun. Man fürchtet nicht vorhandene Unbill. Schatten handeln nicht eigenständig – außer Du bist Lucky Luke. Dann ist dein eigener Schatten watt langsam.
Schatten ist also mehr als Abwesenheit von Licht. Er ist Spiegel, Warnung, Schutz, Abgrund und Einladung zugleich. Wer sich mit seinem Schatten versöhnt, begegnet sich selbst – ehrlich, ganz und vollständig. Denn auch zu unseren Persönlichkeiten gehören die Guten wie die Schlechten. Jetzt im Sommer sind die Schatten kurz, nutzen wir die Zeit. Für gute Taten und unsere besten Seiten. Dass die Schatten wieder länger werden, wird eh früher kommen, als uns allen lieb ist.
*…und Harry Potter ist es nicht.