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Palette oder die Bilder im Kopf

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Illustration: Zara Schmittgall
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Ein auf den ersten Blick unscheinbares Wort hat es ganz schön in sich: Es ist nicht nur Grundlage einer kleinen „Revolution“ innerhalb der weltweiten Logistik, sondern belegt auch noch eindrucksvoll, dass es eine ganz unterschiedliche Welt männlicher und weiblicher Imagination gibt, und wird damit – ganz ungewollt – zu einem Schlüsselbegriff des modernen Marketings: das Wort „Palette“.

Säße ich in einer Jury und dürfte über das Marketing-Wort des Jahres entscheiden, so würde ich definitiv den Begriff „Palette“ wählen. Denn dieser zeigt sehr schnell, dass Männer und Frauen andere Bilder im Kopf haben, wenn sie bestimmte Begriffe hören (wir haben es ja immer geahnt). Und da dies oft passiert, sind für Missverständnisse zwischen Mann und Frau oft Tür und Tor geöffnet. Aber das ist ein anderes Thema, und deshalb zurück zur Palette.

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Welche Bilder entstehen vor dem inneren Auge eines Mannes, wenn er das Wort „Palette“ hört? Ganz klar – Männer denken spontan an quadratisch zusammengezimmerte Holzbretter, die zum Transport jeglicher Gegenstände praktisch verladen auf Lastkraftwagen durch die ganze Welt gekarrt werden können. Je nach Freizeitorientierung wird der eine oder andere Hobbygärtner auch an praktisches Garten-Mobiliar aus diesen sogenannten Europaletten denken, das kostensparend und mit Kissen versehen zum Füßehochlegen im Feierabend-Modus genutzt werden kann. Der Duft von Holz und der wohlige Gedanke an Feierabendromantik im Baumarkt gesellen sich auf angenehme Weise dazu.

Kurz: „quadratisch, praktisch, gut“.

Und das stimmt in vielerlei Hinsicht für die Palette. Die sogenannte  „Europalette“ ist aus dem industriellen Alltag beziehungsweise entsprechender Logistik kaum wegzudenken, weshalb ein wenig Geschichte hier nicht schadet, um dem auf den ersten Blick schmucklosen, funktionellen Gegenstand seinen Tribut zu zollen: Anfang des Jahres 1961 beschloss der Verband der Internationalen Eisenbahnen (UIC) eine genormte Transportplattform für Europa mit einer Grundfläche von 0,96 Quadratmetern, 120 Zentimetern Länge und 80 Zentimetern Breite sowie einer Höhe von 14,4 Zentimetern herzustellen. Etwa 80 Spezialnägel halten die stabile „Holz-Konstruktion“ aus elf Brettern und neun Holzklötzen seitdem zusammen. Die Idee dahinter: Eine einheitliche Plattform im Güterverkehr sollte dafür sorgen, dass kein wertvoller Stauraum mehr durch verschiedene Verpackungsgrößen und dadurch entstehende Lücken verschenkt wird. Standardisierung ist eine Triebfeder wirtschaftlicher Entwicklung und sorgt für effiziente Betriebsabläufe. Die Eisenbahngesellschaften erreichten dadurch eine enorme Effizienz-Steigerung beim Be- und Entladen der Waggons, und Logistiker aller Welt richteten ihre Systeme auf das dann so beliebte „Holzquadrat“ aus: Gabelstapler, Hochregallager, Förderbänder, Lastwagen – alles wurde auf die neue Grundlage der „Europalette“ abgestellt. Das ist bis heute so.

Was die Normierung für die Industrie noch viel bedeutsamer macht, ist, dass die Palette bei der Anlieferung nicht leer geräumt werden muss, sondern einfach gegen eine leere Palette ausgetauscht werden kann – und zwar nach dem Prinzip: neue gegen neue Paletten, gebrauchte gegen gebrauchte Paletten.  Dabei kann sie von allen Seiten mit einem Gabelstapler oder Hubwagen aufgenommen und befördert werden. Die Verwaltung der Paletten-Bestände wird über Plattformen zwischen den Logistik-Unternehmen abgewickelt. Um am Tauschring des Europools der European Pallet Association (Epal) teilnehmen zu können, muss die Europalette ein Epal-Brandzeichen am linken Eckklotz aufweisen.

Schädlingsfreies Nadelholz…

…ist das Standard-Material der Palette. Mittlerweile gibt es Paletten allerdings auch in anderen Materialien: Aluminium, Stahl, Kunststoff und sogar Papier – je nach Einsatzzweck, denn das Gewicht der Ladung spielt natürlich eine tragende Rolle. Die normale Europalette wiegt je nach Holzfeuchte 20 bis 24 Kilogramm. Bei Ladung von Lebensmitteln und pharmazeutischen Produkten müssen die Paletten gegen Verunreinigung und gegen Beschädigung optimal geschützt werden. Und auch Sonderformen, die auf die speziellen Bedürfnisse einzelner Industriezweige zugeschnitten sind, lassen sich mittlerweile erwerben. Die durchschnittliche Lebensdauer einer Europalette wird mit ungefähr sechs Jahren angegeben.

Bei all dieser enormen Funktionalität brauchen diese „Gebrauchs-Paletten“ keine besondere Vermarktung, sondern gehen weg wie „geschnitten Brot“, denn sie sind in erster Linie ein Industrieprodukt . Daran ändern auch die für den privaten Gebrauch zweckentfremdeten Varianten nichts. (Es gibt die Paletten ja jetzt auch als bequemes Gartenmöbel mit Sitzkissen.) Ansonsten richtet sich die Warenpräsentation nach dem Nutzen als reinem Gebrauchsgegenstand – ganz ohne Marketing-Schnickschnack.

Ganz anders sieht es aus, wenn man im Kreise gut duftender Damen – möglicherweise mit einem Prosecco bewaffnet – das Wort „Palette“ in die Runde streut. An die Europalette wird hier kaum jemand denken. Da entstehen plötzlich ganz andere Assoziationen und Bilder vor den inneren Augen. Denn die Palette ist als Instrument weiblicher Schminkkunst nicht mehr aus dem Alltag modebewusster Frauen wegzudenken – und der Trend zu immer größeren Farbpaletten innerhalb des Lidschattenbereiches hat in den letzten Jahren zugenommen. Besonders findige Kosmetikfirmen lassen aber auch mit „klickbaren“ Farbtönen eigene Zusammenstellungen von „Paletten“ zu, die sich auch noch „ineinander faden“ oder je nach Sichtweise ineinander verschmieren lassen. (Der Fachbegriff lautet übrigens „verblenden“, so weiß ich aus zahlreichen Youtube Schmink-Tutorials zum Thema.)

Schnell…

…gesellt sich die Vorstellung eines dezenten Parfum-Geruchs zu den geistigen Bildern pastelliger, farblich abgestufter Lidschattenfarben in allen Schattierungen hinzu. Je nachdem wissen aber auch viele Frauen, sich sofort innerhalb der „Palette“ farblich einzuordnen: Gibt es doch den Winterfarben-Typ und den Sommerfarben-Typ unter uns Frauen, und die eine oder andere richtet ihren Kleiderschrank entsprechend dieser Farbenwelten aus. Nicht zuletzt hat die „Palette“ eines namhaften Haarfärbemittelherstellers ihren Siegeszug auch auf den Köpfen der Frauen gefeiert, was uns zu mehr Individualität und längerer Schönheit verholfen hat. Dass hier ein ausgeklügeltes, sehr auf die Frau abgezieltes Marketing entstanden ist, braucht kaum weiterer Erklärung.

Mir fällt kaum ein anderes Wort ein, bei dem die Vorstellungen und inneren Bilder der Geschlechter so auseinanderdriften. Ganz genau hier, bei diesem Wort „Palette“, muss die Wiege des „Gender-Marketings“ gestanden haben. Also ein Marketing, das auf den Verkauf von Produkten in Richtung der beiden Geschlechter zielt und das sich die Industrie in den letzten Jahren immer stärker zu Nutze macht. Das war lange Zeit allerdings als politisch unkorrekt verpönt, wie Hans-Georg Häusel in seinem Marketingwerk „Brain View“ erläutert, aber dennoch richtig.

Die Gehirne von Männern und Frauen…

…sind nicht nur etwas anders aufgebaut, sondern stehen insbesondere auch unter dem Einfluss verschiedener Hormone beziehungsweise unterschiedlicher Konzentrationen selbiger, denn rein weibliche und rein männliche Hormone gibt es nicht. Dass im weiblichen Gehirn mehr Fürsorge- und Bindungshormone am Werk sind als bei Männern, wirkt sich nicht nur auf die Imagination bei Worten, sondern ganz konkret natürlich auch beim Kauf-Verhalten aus. 85 Prozent der Geschenke werden nach dem Psychologen Häusel von Frauen gekauft. Dass da der Gedanke schneller bei der Schmink- als bei der Europalette ist, versteht sich von selber. Zumal man letztere einfach schwerer verpacken kann.

Da Testosteron beim Mann dominiert, denken diese im täglichen Leben eindimensionaler und sie versuchen, die Welt zu vereinfachen, indem sie ordnen oder systematisieren. Wie schnell also ist man da bei der perfekten Ordnungseinheit „Europalette“. Dieses zugegeben etwas vereinfachte Zuschreiben der verschiedenen Bilderwelten auf Männer und Frauen ist aber tatsächlich gar nicht so weit hergeholt, und die Herleitung ist in jedem Fall korrekt: Frauen und Männer denken verschieden und nehmen die Welt unterschiedlich wahr, und es ist nur eine logische Konsequenz, dass dies auch im Marketing Berücksichtigung findet. Während Männer aufgrund des Testosterons „geordnete Hardfacts“ (Europalette) lieben, sind es bei Frauen fantasieanregende Produktbeschreibungen (Farbpaletten). Mögen Männer aufgrund des Testosterons quadratische, geradlinige und praktische Formen, sind es bei Frauen weiche und runde. Und daran wird nochmals meine Ausgangsthese bestätigt, dass der Begriff „Palette“ sozusagen archetypisch für das Gender- (also Geschlechter-) Marketing ist. Männer und Frauen haben nicht nur andere Bilder im Kopf, sie kaufen auch anders: Mehr Geld investieren Frauen eindeutig in Mode und Parfüm.

Im Schnitt um die 60.000 Mal

…wird das Wort „Palette“ monatlich bei Google eingegeben und gesucht. Zum Vergleich: Ein zentraler Satz wie „was koche ich heute“ – wird etwa 157.000 Mal bei Google eingegeben und zeigt in etwa die Bedeutung der „Palette“ im Universum der gesuchten Worte. Wobei bei den ausgespuckten Ergebnissen tatsächlich zunächst die Transport- beziehungsweise Europalette die Oberhand hat, also wahrscheinlich von Männern besonders häufig gesucht wird. Erst ab Seite zwei und drei spuckt Google die für die „Frau“ interessanten Paletten der Kosmetikindustrie aus. Was wahrscheinlich aber nicht bedeutet, dass Frauen seltener nach Kosmetik suchen als Männer nach Paletten. Nur tun sie das wahrscheinlich eher mit anderen Begriffen.

Natürlich spiele ich hier mit Klischees und bin mir bewusst, dass auch bei Frauen die Euro-Palette mittlerweile ihren festen Platz im Kopf hat. So fragte mich meine Tochter zuletzt, ob sie nicht ein Euro-Paletten-Bett bekommen kann. Ich staune immer wieder über die Bedeutungsbreite des Wortes „Palette“ und auch den Siegeszug des Gegenstandes Europalette an sich vom LKW in die Schlafzimmer junger Damen. Diese wechselnde Bedeutung der Palette lässt mich irgendwie an das Buch von Roland Barthes „Mythen des Alltags“ denken. Neben der rein materiellen Seite der Dinge (die Holz-Palette) tritt durch die Aussage über die Dinge ein gesellschaftlicher Gebrauch zu den Dingen hinzu. Diesen Gedanken hier weiterzuspinnen, wäre aber selbst mir jetzt zu komplex, denn das sind Gedanken eines poststrukturalistischen französischen Philosophen, die ich jetzt nur mal mutig und vage auf die Palette übertrage.

Fakt ist aber, dass sich die Palette immer neuen Erfindungen und Bedeutungen erfreut, aber nicht nur das Wort in seinen Bedeutungen an sich, sondern auch der Gegenstand der Holzpalette selbst unterliegt einer Wandlung. Und das hätte sicher niemand einem so simplen, aber dennoch genialen Alltagsgegenstand zugetraut. Wer weiß, wozu die Palette in Zukunft noch alles fähig sein wird. Vielleicht fliegen wir eines Tages auf ihr zum Mond?

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Sonja Neukirchen
M.A. Politikwiss./Soziologie (Uni Bonn 1998), Mitglied im Deutschen Fachjournalistenverband DFJV. Geborene Jülicherin, bekennende Rheinländerin. Versucht das Leben deshalb nicht zu ernst zu nehmen. Schreibt gerne von Menschen, Macht und Mäusen.

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