Start Magazin Geschichte/n Eher Unterdrücker oder Modernisierer?

Eher Unterdrücker oder Modernisierer?

Jülich und Napoleon. Da gibt es eine nicht ganz störungsfreie Beziehung. Zum 200. Todestages von Napoleon Bonaparte am 5. Mai 1821 auf St. Helena im Südatlantik heißt der Untertitel der Facharbeit von Amelie Schumacher am Gymnasium Haus Overbach. Die Herzog-Redaktion dankt für die Möglichkeit der Veröffentlichung.

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Porträt Kaiser Napoleons I. Abbildung (Ausschnitt): Museum Zitadelle Jülich
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„Was soll das heißen – die Umstände? Ich bestimme, welche Umstände herrschen.“

Kaiser der Franzosen, Napoleon I. (Bonaparte, 1769-1821).

Dieses Zitat zeigt, welche große politische Macht Napoleon auf die Gesellschaft ausübte. Sein Einfluss war in mancher Hinsicht sehr modernisierend für die Bevölkerung, in anderer Hinsicht eher unterdrückend. Dadurch entstehen zwei unterschiedliche Ansichten bezüglich Napoleon Bonaparte bzw. seiner Herrschaft. Daraufhin beschäftigt sich die vorliegende Facharbeit mit der Frage, ob die Auswirkungen der etwa zwanzig Jahre andauernden Franzosenherrschaft im Rheinland im Resultat eher positiv (modernisierend) oder negativ (unterdrückend) sind. Geographisch bezieht sich meine Leitfrage auf die linksrheinischen Gebiete in der Zeit von 1795 bis 1813, da mit dem Baseler Frieden (1795) die vorgenannten Gebiete de Facto zum französischen Staatsgebiet gehörten. Darüber hinaus ist das Thema sehr interessant, da verschiedene Aus-wirkungen (z.B. Reformen und Gesetze) bis in die heutige Lebenswirklichkeit der Rheinländer und sogar der gesamtdeutschen Bevölkerung existieren. Zudem fühle ich mich als Bewohnerin des damaligen „linksrheinischen Territoriums“ von diesem Thema historisch besonders angesprochen.
Der Hauptteil beginnt mit der Darstellung der revolutionären geschichtlichen Situation im Jahr 1792, dem Beginn der französischen Fremdherrschaft im Rheinland. Folgend werden die Veränderungen in diversen Bereichen (z.B. Bildung, Kirche, Handel und Gesetze) und ihre Auswirkungen erläutert. Schließlich wird die napoleonische Herrschaft hinsichtlich der Begriffe „Modernisierung“ oder „Unterdrückung“ bewertet.
Nach der Recherche diverser historischer Literatur und einem Interview eines kompetenten Historikers, der besonders in Jülich und Umgebung bekannt ist, ist es möglich, die oben aufgeführte Leitfrage abschließend und qualifiziert, wenn auch abhängig von der Perspektive der betroffenen Person differenziert zu beantworten und zu bewerten.

2. Lebenslauf Napoleon

2.1. Jugend und militärischer Aufstieg
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Napoleon Bonaparte (Buonaparte) wurde am 15. August 1769 in Ajaccio (Korsika) geboren und wuchs dort in einer Adelsfamilie auf. Schon in einem sehr jungen Alter wurde Napoleon von seinem Vater nach Frankreich geschickt, um dort Erziehung zu genießen. Nach einigen Jahren war seine Familie dazu gezwungen, Korsika zu verlassen, da Napoleon Sympathien für die korsische Separatistenbewegung aufzeigte. Seinen ersten militärischen Erfolg hatte Napoleon bei Toulon im Jahre 1793. Dadurch wurde er zum Brigadegeneral befördert.

Bertran Andrieu und Louis Jaley, Medaille auf die Siege Napoleons, 1807, Bronze. Abbildung: Museum Zitadelle Jülich
2.2. Politische Karriere

Aufgrund eines Staatsstreiches übernahm Napoleon im Jahre 1799 das Amt als erster Konsul. Er war unter den französischen Heerführern der siegreichste. Infolgedessen krönte er sich am 02.12.1804 selbst zum „Kaiser der Franzosen“. Napoleon selber sah sich als der „Vollender der Revolution“. Durch mehrere Siege im Ausland erreichte er eine Dominanzstellung Frankreichs im Ausland.

2.3. Abstieg und Exil

Die napoleonische Herrschaft hatte im Jahre 1814 ein erstes Ende. In der „Völkerschlacht“ bei Leipzig (16.-19. Oktober 1813) wurde die französische Armee von der Koalition aus Preußen, Russland, England, Schweden und Österreich geschlagen. Im Jahre 1814 wurde Napoleon in Paris zur Abdankung gezwungen und auf die Insel Elba verbannt. Napoleon gelangte ein zweites Mal an die Macht („Herrschaft der 100 Tage“), jedoch scheiterte diese mit der Niederlage bei Waterloo am 18. Juni 1815. Schließlich wurde Napoleon auf die südatlantische Insel St. Helena verbannt und starb dort am 05.05.1821.

3. Politische Geschichte und allgemeine Verwaltung

Von 1792 an kämpften verschiedene europäische Großmächte in wechselnden Koalitionen gegen Frankreich. Zum einen weil sie verhindern wollten, dass sich die revolutionären Ideen ausgehend von Frankreich in Europa ausbreiteten, zum anderen weil sie wie immer bei Kriegen auf eigenen Profit hofften. Jedoch war Frankreich stärker als erwartet, und der französische General Napoleon Bonaparte (später Kaiser der Franzosen) trat im Verlauf der verschiedenen Kriege immer häufiger in den Vordergrund. Die etwa zwanzigjährige Franzosenzeit (1792-1815) begann im Rheinland mit der Eroberung des linken Rheinufers durch die französischen Revolutionstruppen im Jahr 1794. Das linksseitige Rheinland wurde Frankreich zugeteilt und anhaltender als andere Teile Deutschlands und Europas von der Franzosenzeit geprägt. Unter dem „linksseitigen Rheinland“ wurde das Gebiet, welches sich vom heutigen Bayern (im Süden) bis zu den nördlichen Niederlanden (im Norden) erstreckt, definiert. Anfangs richteten sich die Franzosen zunächst auf militärische Ausbeutung des linken Rheinufers. Mit dem Friedensvertrag von Campo Formio (1797) wurde der Rhein zur Grenze Frankreichs. Seit 1798 zielten die Franzosen nicht mehr auf die militärische Ausbeutung hin, denn die Pariser Politik strebte erfolgreich den Anschluss des linksseitigen Rheinufers an.

3.1. Annexion des linken Rheinufers
Karikatur auf die Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht bei Leipzig, 1813, kolorierte Radierung. Abbildung: Museum Zitadelle Jülich

Im Jahre 1798 kam eine Einteilung des Gebietes durch den Juristen François Joseph Rudler (1757-1837) zustande, der dabei die bestehenden politischen Grenzen nicht beachtete. So entstanden vier Departements: Rur (Roer), Saar (Sarre), Rhein und Mosel (Rhin-et-Moselle) und Donnersberg (Mont-Tonnerre) mit den jeweiligen Hauptorten in Aachen (Aix-la-Chapelle), Trier (Trèves), Koblenz (Coblence) und Mainz (Mayence). Als Generalkommissar war er damit beauftragt, die Behördenverfassung nach französischem Muster aufzubauen. Nach den militärischen Erfolgen Frankreichs erkannten die Kriegsgegner 1801 mit dem Frieden von Lunéville den Rhein als Grenze zwischen der französischen Republik und dem Deutschen Reich an. Die Rheinländer, die auch als „citoyens“ bezeichnet wurden, waren seit Februar 1801 französische Staatsbürger inklusiver aller Rechte. Ab 1798 wurde die Verwaltung des Rheinlands nach der französischen Verfassung von 1795 entworfen. Die oben aufgeführten vier Departements wurden in Kantone und die Kantone in Gemeinden eingeteilt. In der veränderten (modernisierten) Struktur befanden sich nun „hierarchische Über- und Unterordnung in einem zunehmend zentralistischer organisierten bürokratischen Anstaltsstaat“. Diese setzten sich aus Agenten und Adjunkten zusammen. Regierungskommissare kontrollierten die Verwaltungen (Departements- und Kantonsverwaltungen). Anders als in französischen Verwaltungen wurde in den rheinischen Departements das Personal ernannt und nicht gewählt. Außerdem konnte nicht jeder Verwaltungsarbeit leisten, da ab 1798 Französisch Amtssprache war.

3.2. Präfektursystem und Integration der rheinischen Departements

Im Jahre 1800 wurde das linke Rheinufer an das politische System des Konsularregimes, das dreistufige, hierarchisch organisierte Präfektursystem, angepasst. Diese eingeführte Verwaltung konnte sich besser bewähren als die Behörden der zersplitterten Territorien des Alten Reiches. Dadurch bestand erstmalig im Gebiet des linken Rheinufers eine einheitliche, durchorganisierte Verwaltung. Die Führungspositionen waren meistens mit Franzosen besetzt, da Französisch als Amtssprache vorgeschrieben war. Einheimische (d.h. gebürtige Deutsche) amtierten meist auf der unteren Verwaltungsebene. Zudem brachte dieses Präfektursystem eine außerordentliche Machtstellung des Präfekten an der Spitze des Departements mit sich. An erster Stelle eines jeden Departements fungierte ein vom Ersten Konsul bzw. Kaiser ernannter Präfekt. Der Präfekt stellte das ausführende Organ der Zentralregierung in den vier Departements dar, und ihm waren bestimmte Gremien zugeordnet, die dem Präfekten erlaubten, sein Departement nach den zentralstaatlichen Richtlinien alleine zu verwalten. Ihm untergeben waren im Arrondissement der Unterpräfekt und in der Kommune der Maire oder Bürgermeister, der mit seinen Adjunkten oder Beigeordneten an die Stelle der kollegialen Munizipalität trat. Je nach Größe der Gemeinde erhöhte sich die Zahl der Adjunkten. Darüber hinaus wurde der Maire oder Bürgermeister von einem Munizipalrat beraten. Der Maire führte Aufsicht über den Gemeindebezirk, verteilte Gelder aus dem Etat, requirierte direkte Steuern, führte die Gemeindekasse und die von den Franzosen neu eingeführten Zivilstandsregister. Zum ersten Mal gab es Eintragungen über Geburten, Heiraten und Sterbefälle im linken Rheinland.

3.3. Gerichtswesen und Napoleonische Gesetzbücher

Die Franzosen änderten jedoch nicht nur die Verwaltungsebene, sondern auch das Gerichtswesen im linken Rheinland. Diese fanden im linken Rheinland eine unübersichtliche Rechtszersplitterung mit einer unbefriedigenden Gerichtsorganisation und einem veralteten, oftmals nicht vorliegenden Recht vor. Ab 1798 wurden alle bestehenden richterlichen Gewalten auf das neue mehrstufige Justizwesen nach der französischen Verfassung von 1795 umorganisiert. Dieses Gerichtswesen wurde 1802 und 1810 nochmals reformiert. Dadurch wurden alle mittelalterlichen Züge der bestehenden Verfassung beseitigt. Dieser Umbruch erfolgte von Seiten der Franzosen sehr radikal und dominant. Die höchste Stellung hatten die Behörden für Zivil- und Kriminaldelikte. Auf der untersten Ebene fungierte in jedem Kanton ein Friedensrichter. Seine Aufgabe bestand darin, zwischen den streitenden Parteien zu schlichten und somit den Rechtsfrieden wieder herzustellen. In jedem Arrondissement war seit 1802 für Zivilsachen ein Gericht erster Instanz zuständig. Für Schwerstverbrechen wurde in jedem Arrondissement ein Strafgericht installiert. Zu den häufig verhängten Strafen zählten Haftstrafen, Spott, Zwangsarbeit und der durch die Guillotine verursachte Tod. In Frankreich wurden Richter gewählt, im linken Rheinland wurden sie vom Mainzer Regierungskommissar, später von Napoleon, ernannt. Das Gerichtswesen sowie die Napoleonischen Gesetzbücher sollten „Rechtsstaatlichkeit, bürgerliche Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz sowie das Recht auf Eigentum gewährleisten“. In der Franzosenzeit waren auch im linken Rheinland die Napoleonischen Gesetzbücher wirksam, die den Rheinländern bisher unbekannte Rechtssicherheit und rechtliche Einheit gewährten. Das erstmals niedergeschriebene Recht wurde umgehend in den vier rheinischen Departements in folgenden Gesetzbüchern verbindlich: im Bürgerlichen oder Napoleonischen Gesetzbuch (Code civil, 1804; Code Napoléon, 1807), in der Zivilprozessordnung (Code de procédure civil, 1806), dem Handelsgesetzbuch (Code de commerce, 1807), der Strafpresseordnung (Code d ́instruction criminelle, 1808) und dem Strafgesetzbuch (Code pénal, 1810). Durch die Übersetzung wurde die neue Gerichtsbarkeit einem breiten Spektrum von Leserinnen und Lesern bekannt und führte zu einer großen Verbreitung des französischen Rechts. Der Code Napoléon verbürgte Gleichheit vor Gesetz und Steuer und eine unabhängige öffentliche Justiz. Des Weiteren blieb das französische Zivilrecht im Rheinland bis im Jahre 1900 in Kraft. Ab dem 19. Jahrhundert wurde das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) eingeführt. Obendrein befanden sich einige Passagen des Code civil in Nordrhein-Westfalen bis 1969 in der gesetzlichen Regelung. Dies ist historisch gesehen eine Seltenheit und deutet auf das politisch pragmatische Handeln der Franzosen im linken Rheinland hin.

4. Kirchenpolitik

Schon mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte im August 1789 wurde der Katholizismus als Staatsreligion abgeschafft, denn durch die Besetzung der Franzosen im linken Rheinland wurde die Glaubensfreiheit eingeführt. Im Gegensatz zu Frankreich wurde diese Änderung nicht von Revolutionären vorgenommen, sondern von einer Regierung, die sich um das Gleichgewicht mit den religiösen Gemeinschaften kümmerte. Anfangs gab es eine zunächst antikirchliche Gesetzgebung. Diese betrafen vor allem Klöster- und Kirchengüter, die Geistlichkeit und das kirchliche Leben. Bis 1798 mussten vor allem Klöster und Stifte eine große Anzahl ihrer Edelmetallgegenstände abtreten. Zudem wurde sehr oft die Funktion einer Kirche oder eines Klosters verändert. Sie wurden zu Pferdeställen oder Lazaretten umfunktioniert. Diese Veränderung musste die kirchliche Gemeinde akzeptieren. Eingriffe in die kirchliche Selbstverwaltung und in die noch bestehende kirchliche Rechtsprechung, Entfernung religiöser Symbole in der Öffentlichkeit, Untersagung der öffentlichen Religionsausübung, Einführung des priesterlichen Bürgereides, Aufnahmeverbot von Novizen, systematische staatliche Registrierung des Kirchengutes, Einführung der Zivilstandsgesetze und des republikanischen Kalenders waren Maßnahmen, welche die vorhandenen Strukturen grundlegend zerschlugen. Durch den Staatsstreich Napoleons im Jahre 1799 wurde Napoleon als erster Konsul zum Alleinherrscher und die antikirchliche Gesetzgebung hatte ein Ende. Schließlich kam es durch das Konkordat vom 15. Juli 1801 zwischen Napoleon und Papst Pius VI., zu einer zumindest äußerlich scheinbaren Aussöhnung zwischen der katholischen Kirche und dem französischen Staat. Zudem wurde eine Neuorganisation des Religionswesens in ganz Frankreich eingeführt. Die römisch-katholische Konfession wurde als Majorität der Staatsbürger anerkannt. Durch eine Aufteilung Frankreichs in zehn Erzbistümer wurden die Bistümer Aachen (Roer, Rhein und Mosel) und Trier (Saar, Donnersberg) dem Erzbistum Mecheln einverleibt. Diese Vereinbarung als nationales Gesetz wurde ein Jahr später in den Departements der Rheinprovinz bekannt gegeben und zusammen mit den sogenannten Organischen Artikeln (von Napoleon erlassene Verordnungen zur Religionsausübung in Frankreich) veröffentlicht. Wie auch bei der Verfassung hatten die gebürtigen Franzosen die höchste Stellung in der neuen Kirchenpolitik. Gebürtige Franzosen wurden zu Bischöfen ernannt und erhielten ebenso wie die Pfarrer staatliche Besoldung. Überdies hinaus wurden die Pfarreibezirke neu umgeschrieben. Für jeden Kanton war eine Hauptpfarrei und eine Anzahl von Sukkursalpfarreien vorgesehen.

4.1. Religionsfreiheit in verschiedenen Konfessionen

Wie auch die katholische Gemeinschaft wurden die Kirchen der evangelischen Gemeinde in den vier rheinischen Departements neu strukturiert. Diese Bevölkerungsgruppe bestand aus 300 bis 400 Angehörigen. Sie stellten „eine Bevölkerungsgruppe minderen Rechts dar, deren religiöse, politische und wirtschaftliche Betätigungen erheblichen Beschränkungen unterlagen“. Durch die Franzosenherrschaft erhielten sie jedoch auch die volle Religionsfreiheit und eine zentralistische Kirchenverwaltung.
Zusammen mit den Protestanten erhielten auch die Juden durch die Franzosenherrschaft ab 1802 die volle Gleichberechtigung. Vor Beginn der Franzosenherrschaft im linken Rheinland galt für die Juden noch die Vorschrift von 1424, dass sie Städte nur mit einem Erlaubnisschein zu betreten hatten und diese bis Sonnenuntergang verlassen mussten. Ab 1808 wurden in Koblenz, Krefeld, Trier und Mainz Synagogen gebaut. Jedoch wurde im gleichen Jahr auch das „Schändliche Dekret“ angeordnet. Es beseitigte die Freizügigkeit und freie Erwerbstätigkeit der Juden und setzte für sie in wichtigen Punkten die Bürgerrechte außer Kraft.4.2. Säkularisation
Durch sogenannte „Pufferstaaten“ wollte Napoleon zwischen seinem Land und Österreich kleine Staaten bilden, die ihm bei einem österreichischen Angriff helfen sollten, jedoch selber zu schwach waren, um Frankreich anzugreifen. Deshalb ordnete Napoleon das unübersichtliche Deutsche Reich neu an. Die geistlichen Herrschaftsgebiete wurden säkularisiert, d.h. an weltliche Fürsten übergeben. Darüber hinaus wurden kleine Fürstentümer größeren Fürstentümern einverleibt (Mediatisierung). Dadurch verschwand der sog. „Flickenteppich“. Es wurden insgesamt 112 Reichsbistümer, Reichsabteien und Reichsstädte sowie 350 Reichsritterschaften von der politischen Landkarte entfernt. Drei Millionen Menschen wechselten ihre Herren. Die Hauptgewinner waren Baden, Württemberg und Bayern, deren Länder sehr viel größer wurden. In den vier Departements wurden annähernd alle Klöster und Stifte aufgehoben. Die einzige Ausnahme waren geistliche Einrichtungen, die öffentliche Lehr- und Pflegeeinrichtungen unterhielten. Zudem wurden die Kirchengüter eingezogen und verstaatlicht. Die Aufhebung kirchlicher Privilegien und die Umstrukturierung der Gebiete brachte verschiedene Auswirkungen mit sich. Zum einen wurde der Klerus enteignet, zum anderen verschwanden mit den wohlhabenden Klöstern die Kreditgeber, welche zu angemessenen Zinssätzen große Summen verliehen. Diese Auswirkungen veränderten die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gefüge anhaltend, und die katholische Kirche geriet unter eine strenge Zensur. Durch die Säkularisation gab es eine Trennung von Kirche und Staat.

5. Wirtschaftspolitik beidseits des Rheins und neue Elite

Neben dem Rechtswesen und der Kirchenpolitik reformierte Napoleon auch den wirtschaftlichen Bereich. Die mittelalterlichen Zunftbindungen bzw. die sich daraus ergebenen Zwänge wurden aufgehoben und durch die Einführung von Patentabgaben ersetzt. Hiermit konnte sich jeder Handwerker mit einem Patent versehen, und dadurch war die neue Gewerbefreiheit gegeben „und legte den Grundstein für eine freie Wirtschaftsordnung“. Die Bauern wurden aus ihrer Gutsuntertänigkeit befreit (Entfeudalisierung der Landwirtschaft), und zudem wurde die Abgabe des Feldzehnten abgeschafft. Des Weiteren erhielten die Bürger durch die Städteordnung von 1808 weitgehende Selbstverwaltungsrechte. Sie erhielten das Recht, einen Stadtrat zu wählen, der die Stadt verwaltete. Diese Reformen führten zusammen mit dem Ausbau der Verkehrswege zu einem Aufschwung des wirtschaftlichen Handelns. Das vorhandene altmodische Heeressystem wurde zu einer neuen Elite umstrukturiert. Für alle Männer zwischen 18 und 40 Jahren galt die allgemeine Wehrpflicht. Ab diesem Zeitpunkt konnten auch Nichtadelige Offiziersstellen einnehmen, da fortan das Leistungsprinzip bestand. Dies hatte zur Folge, dass aus dem „gewöhnlichen“ Bürgertum viele Männer den Tod in Napoleons geführten Kriegen (1801-1813) fanden.

6. Bildungssystem

Das französische Unterrichtsgesetz von 1795 mit den Grundsätzen von Freiheit, Gleichheit und Laizität (Trennung zwischen Religion und Staat) der Bildung ordnete das bis zu diesem Zeitpunkt rein kirchlich ausgerichtete Schulwesen neu und schaffte alle vorhandenen Lehrstätten ab. Wilhelm von Humboldt war von Napoleon beauftragt, das Schulsystem zu reformieren. Sein Reformprogramm war liberal ausgerichtet und sein Leitgedanke war, „das Menschenkind zum Menschen zu bilden“, d.h. die Schüler sollten die Befähigung bekommen, selbstständig zu denken und zu lernen. Sie sollten nicht nur ein konkretes Fach erlernen. Das Ziel dieser Neuordnung war ein „einheitliches, standardisiertes öffentliches Bildungssystem“ unter staatlicher Aufsicht, be- stehend aus Primär-, Sekundärschulen, Lycées und Spezialschulen (später Fakultäten). Wichtiger Bestandteil unter der Erneuerung von Humboldt war die Gründung der Universität Berlin. Im linksseitigen Rheinland gab es jedoch bei der Umsetzung dieser Schulreform erhebliche Probleme im Bereich von Personal und Finanzen.

J. Steinlin, Ganzfigurenporträt Kaiser Napoleons I., 1822, Aquarell. Abbildung: Museum Zitadelle Jülich

7. Bewertung und abschließendes Fazit der napoleonischen Herrschaft im Rheinland

Napoleon Bonaparte (1769-1821) führte einen Krieg nach dem anderen und regierte sein Land mit „eiserner Hand“. Doch der berühmte Korse, der sich selbst 1804 zum ersten Kaiser der Franzosen krönte, war auch ein Wegbereiter des Fortschritts in Europa. Sein Einfluss, insbesondere im Bereich der Rechtsgeschichte, ist bis heute spürbar. Positive und negative Aspekte seines Wirkens und die vielfältigen Facetten seiner Person werden in der folgenden Bewertung und in dem abschließenden Fazit geschildert.
Anfangs empfingen die Bürger des linken Rheinlandes Napoleon mit Sympathie. Sie hofften durch Napoleon auf eine Umsetzung von Gleichheit und Freiheit in ihrem Gebiet. Sie feierten ihren „Held und Retter“ gebührend. Diese Sympathie wandelte sich doch sehr schnell in Hass um. Die Bürger empfanden die französische Dominanz im linken Rheinland schon bald als Besatzung. Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte ging sogar soweit, dass er in den Reden an die deutsche Nation seine Landsleute dazu aufforderte, sich wieder „Charakter anzuschaffen“, denn sie seien „unterworfen und in Gefangenschaft gebracht“ worden. Der Historiker Ernst Moritz Arndt übertraf sogar Johann Gottlieb Fichte, indem er vom „Hass gegen die Franzosen“ sprach, der nötig sei, „um die Freiheit wieder zu erkämpfen“.

Trotz seiner „Gewaltherrschaft“ und der Regierung des Landes „mit eiserner Hand“ sind heutzutage viele Historiker davon überzeugt, dass Napoleon die große Revolution in Europa gestartet und dadurch einen riesigen Fortschritt für Europa erbracht habe. Er führte ein neues Rechtssystem ein und somit die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz. Außerdem befreite er die Bauern aus ihrer Abhängigkeit. Er führte die Gewerbefreiheit ein, die jedem Bürger das Recht gab, ein Gewerbe zu betreiben. Die Zünfte wurden aufgehoben und das Handwerkerpatent eingeführt. Durch seine Napoleonischen Gesetzbücher (z.B. der „Code Civil“) gelang Napoleon eine historische Seltenheit, denn das französische Zivilrecht blieb im Rheinland sogar bis im Jahr 1900 in Kraft. Zudem schaffte er die Abgaben des Feldzehnten ab und führte das Münzgeld ein. Durch die Einführung des Münzgeldes und die Errichtung von Zöllen war es einfacher für die Bevölkerung, Handel zu betreiben. Im Heer brachte er auch einen großen Fortschritt, denn er modernisierte das veraltete Heer und führte das Leistungsprinzip ein, das dem Adel die Privilegien nahm. Dadurch hatte das „normale“ Bürgertum die Möglichkeit, im Heer einen höheren Rang zu erzielen. Zuletzt stellte er theoretisch die Juden mit den anderen Bürgern gleich, da er die Religionsfreiheit einführte. Praktisch wurden sie durch das „Schändliche Dekret“ weiterhin unterdrückt. Ein weiterer wichtiger Punkt der napoleonischen Herrschaft im Rheinland war, dass er das Bildungs- und Schulwesen reformierte. Das Ziel dieser Neuordnung war ein „einheitliches, standardisiertes und öffentliches Bildungssystem“ unter staatlicher Aufsicht.
An der napoleonischen Herrschaft ist negativ zu beurteilen, dass die Kirche unterdrückt wurde. Alles, was in der Öffentlichkeit auf kirchliches Brauchtum hinwies, wurde verboten. Des Weiteren waren die Bürger von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen und ein vom Volk gewähltes Parlament gab es nicht. Die von Napoleon angestrebten Bildungs- und Schulreformen liefen auch im linksseitigen Rheinland nicht unproblematisch ab. Bei der Umsetzung dieser Schulreformen gab es erhebliche Probleme im Bereich von Personal und Finanzen. Das Bestreben der napoleonischen Verwaltung, aus den Rheinländern auch sprachlich-kulturell Franzosen zu machen, erzeugte keine bedeutsame Unzufriedenheit, jedoch bereiteten die vielfältigen Steuern, die Pressezensur und vor allem die einseitige Ausrichtung des ganzen kaiserlichen Staatsapparats auf Kriegszwecke erhebliches Missfallen innerhalb der deutschen Bevölkerung. Andererseits verhielten sich die Besatzer den Überlieferungen nach zurückhaltend und waren nicht auf die Ausbeutung des linken Rheinlands aus, sondern vielmehr auf den von ihnen angestrebten Sinneswandel.

Durch sein positives Reformprogramm gelang es Napoleon einige Veränderungen wie z.B. das Rechtssystem andauernd zu verändern. Deshalb spricht der Historiker Günter Müchler davon, dass „Napoleon ein Riese seiner Zeit“ gewesen sei. Müchler ist der Meinung, dass Napoleon zwar sehr viel durch seine Kriege zerstört bzw. getötet habe, er jedoch auch Positives geschaffen habe. Er habe den Bürgern die Freiheit kujoniert und viele Rechte geschaffen. Napoleons „Spielraum“ wurde durch den Revolutionskrieg stark beschränkt und sein Denken sei laut Müchler im „starken Maße dem 18. Jahrhundert verhaftet“ gewesen, jedoch habe er aus heutiger Sicht langzeitigen Fortschritt für die Bevölkerung in Deutschland geschaffen. Napoleon erreichte zudem sein eigenes Ziel, das alte Kaiserreich aufzulösen. Dies gelang ihm mit dem Rheinbund unter seiner eigenen Führung. Zur Wichtigkeit der napoleonischen Herrschaft im Rheinland befragt, antwortete von Büren, dass sie von zentraler Bedeutung gewesen sei, weil sie vorherige Strukturen grundlegend geändert habe (z.B. die zivilstandliche Ehe) und die Verwaltungsform damals schon moderner gewesen sei als die spätere Preußenherrschaft. Veränderungen im Sinne von Modernisierung sieht von Büren in Umsetzungen der Gerechtigkeitsvorstellungen (alle Menschen sind gleich) als Erbe der französischen Revolution. Jedoch hätten Napoleons Reformen ohne einen dauerhaften Kriegszustand mehr bewirken können (z.B. die Kontinentalsperre und ständige Truppenaushebungen hemmten). Von Büren spricht in allen Aspekten der Säkularisation und der Suppression in den volkskirchlichen Elementen von einer Unterdrückung. Zudem sei das Militär unterdrückt worden, und die Bevölkerung habe unter dem andauernden Kriegszustand gelitten, daher bezeichnet von Büren die napoleonische Zeit als gelenkte Diktatur. Eher kritisch zu bezeichnen sind laut ihm, die nicht vorhandene Pressefreiheit, das Polizeiwesen, das an den Staat gekoppelt gewesen sei und die wirtschaftliche Abhängigkeit der Unterschicht.

Resümierend lässt sich die Fremdherrschaft Napoleons im Rheinland nicht so einfach beurteilen, da eine Wertung auf die Perspektive der betroffenen Personen ankommt. In dieser „Sattelzeit“ gab es Personen, die durch die napoleonischen Reformen profitiert haben oder eher nicht. Zum einen gab es den Adel, der diese Herrschaft nicht als Unterdrückung wahrgenommen hat, da er z.B. wichtige Funktionen besetzte und somit das Sagen über die „einfachen“ Bürger hatte. Zum anderen gab es den einzelnen steuerzahlenden Bürger, der sich sehr wohl unterdrückt gefühlt hat und sich seiner Freiheit beraubt fühlte durch z.B. die wirtschaftliche Abhängigkeit und die Unterdrückung in den volkskirchlichen Elementen. Im Rahmen dieses abschließenden Fazits ist es auch wichtig, die Zeit vor der Franzosenherrschaft zu betrachten, denn der Staat war im ancien regime nicht sehr transparent und es gab eine große Unzufriedenheit mit den Zuständen. Zuvor war der Bürger kein Bürger mit Rechten und Pflichten, sondern lediglich ein Untertan mit Pflichten. Aus heutiger Sicht ist die napoleonische Herrschaft ein Stück weit zu relativieren, da die Verwaltung moderner und transparenter geworden ist. Jedoch veränderte sich am Alltag der Bürger nichts, denn die praktische Umsetzung der revolutionären neuen Reformen mangelte.

 

Interview mit Guido von Büren,

Historiker, Autor, Mitarbeiter des Museums Zitadelle und des Stadtgeschichtlichen Museums der Stadt Jülich sowie Vorsitzender des Jülicher Geschichtsvereins 1923 e.V.

Guido von Büren. Foto: Archiv PuKBSuS

Amelie Schumacher: Wie würden Sie die Wichtigkeit der napoleonischen Herrschaft im Rheinland einordnen?
Guido von Büren: Für das Rheinland ist das von ganz großer Wichtigkeit und von zentraler Bedeutung, weil die französische Herrschaft die vorherigen Strukturen grundlegend verändert hat und Dinge wie die Gewerbefreiheit, Beendigung der Vorrechte des Adels und des Klerus beseitigt hat, die zivilstandliche Ehe (mit der Möglichkeit der Scheidung, von der Kirche unabhängig) und die transparentere Verwaltungsformen eingeführt hat. Dies wird vor allen Dingen deutlich, wenn man die Preußenzeit dem gegenüber stellt, denn das, was in der Franzosenzeit / napoleonischen Zeit an verwaltungstechnischen Grundlagen gelegt worden ist, war in Teilen weit moderner, als das allgemeine preußische Landrecht und somit konnten die Preußen die Uhr im Rheinland nicht zurück drehen. Die Französische Verwaltungsform ist somit erstmals geblieben.

Amelie Schumacher: In welchen napoleonischen Reformen, bzw. Veränderungen würden Sie von einer Modernisierung sprechen?
Guido von Büren: Es ist natürlich einmal so, dass aus dem Untertan der Bürger wird. Der Bürger hat somit nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte. Auf diese Rechte legt das Napoleonische System großen Wert. Zudem setzt das ein, was man in bestimmten Reichen als Emanzipationsbewegung bezeichnen kann, z.B. erhalten die Juden nicht die vollkommen gleichen Rechte, aber sie werden den anderen Bürgern im weiteren Sinne gleichgestellt. Zudem gilt für alle die Steuerpflicht, das hat etwas mit Gerechtigkeitsvorstellungen zu tun. Darin ist das Erbe der französischen Revolution (alle Menschen sind gleich, ein Staat, der sich über den Bürgern gerecht verhält) enthalten. Dagegen muss man natürlich immer wieder stellen, dass die Praxis nicht in allen Fällen so funktioniert hat, wie es auf dem Papier gestanden hat und das letztlich dieser dauerhafte Kriegszustand, in den Napoleon Europa gestürzt hat, viele Dinge nicht hat aufblühen lassen. Einerseits die Gewerbefreiheit, andererseits die Kontinentalsperre und damit reduzierter Zugang zu bestimmten Rohstoff. Dauerhafter Krieg bedeutet aber auch ständige Truppenaushebungen. In Friedenszeiten hätte das System mehr bewirken können, als es dann de facto gehabt hat.
Amelie Schumacher: Sie haben eben von den Juden gesprochen, dazu habe ich auch eine Frage an Sie notiert, und zwar gab Napoleon dem Bürgertum im Rheinland die Religionsfreiheit und die Gleichheit vor dem Gesetz, wie eben schon angesprochen, jedoch war das bei den Juden anders, denn Napoleon hat z.B. bei den Juden das „Schändliche Dekret“ verordnet. Wie beurteilen Sie diesen Widerspruch?
Guido von Büren: Ja, dazu kann man sagen, dass die Zeit noch nicht wirklich reif war. Die Emanzipation kommt dann wirklich erst in der preußischen Zeit. Man muss nunmehr aber auch sehen, dass die teilweise rechtliche Gleichstellung der Juden einen Hintergrund hatte. Der Staat wollte auf breiter Front, dies sieht man auch in den Bevölkerungslisten, die die Ressourcen errechnen wollte, auf die man im Staat im Zweifel zugreifen kann. Vor allen Dingen ging es darum, um zu gucken: Wie viele kriegsfähige Männer habe ich überhaupt? Indem man die Juden teilweise rechtlich gleichstellt und sie gleichzeitig dazu zwingt, Namen anzunehmen (Dekret von 1807) konnte man Leichen identifizieren und somit für die Bevölkerungslisten zugreifbar machen. Dies ist dann sozusagen eine Sandwich-Situation, in die man hineinkommt. Generell muss man sagen, was die Konfessionalität / Konfessionsfragen angeht, ist die Französische Revolution sehr antikirchlich / antiklerikal ausgerichtet und hat sehr großen Druck auf die Kirche ausgeübt. Dies hat jedoch nichts mit Napoleon zu tun, da dieser erst ab 1801/02 im französischen Staat das Sagen hatte. Davor sind wir im Revolutionären Frankreich, der direktorialen Regierungsform, dort sieht alles ein bisschen anders aus. Das Rheinland ist de facto bis 1797quasi tatsächlich besetztes Gebiet, danach mit dem geheimen Vertrag von Campo Formio wird das Rheinland in den französischen Staat integriert und ab 1801 erst völkerrechtlich anerkannt im Frieden von Lunéville als wirkliche Franzosen, auch wenn sie es vorher auch schon irgendwie waren. Napoleon hat sehr großen Wert auf die katholische Kirche gelegt und mit dem Schließen des Konkordats eine rechtliche Grundlage gelegt, um die Kirche zu säkularisieren (weg von den ganzen geistlichen Kooperationen). Dies hat der Papst auch zugebilligt. Dies ist ein sehr sehr tiefer Einschnitt gewesen, den auch viele Zeitgenossen nicht für gut befunden haben. Gerade im Rheinland ist der Widerstand dagegen relativ groß gewesen, dies darf man auch nicht unterschlagen, andererseits muss man in Rechnung stellen, dass es auch ein Stück weit Zeitgeistlichkeit war. Dass man gesagt hat, dass diese kontemplativen Orden nichts für die Gesellschaft bringen, da sie nur sich selber dienen, wurde schon in den 1770er Jahren in Österreich unter Kaiser Josef II. festgestellt, und dadurch hat es schon im aufgeklärten Absolutismus im großen Maßstab Säkularisationen gegeben. Alle kontemplative Orden sind damals zur Disposition gestellt worden und insoweit ist es nichts wirklich Neues, nur ist es deutlich radikaler, weil es auf sehr breiter Front passiert.

Amelie Schumacher: Zum Schluss haben Sie nun die Radikalität angesprochen und Sie haben eben schon gesagt, dass diese Modernisierungsschritte oftmals gescheitert sind. Bei welchen Reformen bzw. Veränderungen würden Sie eher von einer Unterdrückung sprechen?
Guido von Büren: Der ganze Aspekt der Säkularisation oder die Unterdrückung in den volkskirchlichen Elementen. Da wo egal welche Konfession, Judentum, evangelisch, katholisch, da wo Religion oder Konfession nach außen getreten ist, hat das der Französische Staat im Sinne einer Neutralität versucht zu unterbinden. Dies ist zwar bei Napoleon ein Stück zurückgenommen worden, aber in der Zeit der revolutionären Regierungsform waren alle Formen von Wallfahrt und Prozession schlichtergreifend verboten. Das haben natürlich gerade die sehr katholisch geprägten Rheinländer als Zumutung empfunden, dass sie quasi auf die Kirche zurückgeworfen worden sind. Dann muss man aber auch sagen, dass alles, was mit dem Militär verbunden ist, eine Unterdrückung gewesen ist. Es gab kaum einen Normalzustand. Da quasi immer Kriegszustand war und auch viel Militärpräsens da war, musste die Bevölkerung natürlich auch immer Rücksicht nehmen, und gerade in so einer Stadt wie Jülich als Festungsstadt mit Garnison hat man das im Alltag sehr zu spüren bekommen. Letztlich muss man sagen, dass wenn man auf die napoleonische Zeit guckt, es letztlich eine gelenkte Diktatur war. Es gab auch nicht sowas wie Pressefreiheit. Die antifranzösische Stimmung durfte in der Öffentlichkeit nicht gemacht werden, und unter Napoleon (im Gebiet des Rheinlands und in den Satellitenstaaten z.B. NRW) gab es ein sehr ausgeklügeltes Spitzelwesen, um entsprechend zu schauen: Wo kommt Missstimmung auf, gibt es Tendenzen die französische Herrschaft in Frage zu stellen oder Sabotageakte vorzunehmen? Das ganze Polizeiwesen ist sehr stark an den Staat gekoppelt gewesen. Das, was wir heute unter Gewaltenteilung verstehen, was den demokratisch verfassten Rechtstaat ausmacht, das ist da nur in Ansätzen realisiert. Das klingt auf dem Papier immer ganz gut, da man schon nah dran ist, weil die Revolution sowas genau gefordert hat, aber in der alltäglichen Praxis sah das nicht ganz so aus, und die Unterschichten werden in bestimmten Dingen schon eine Befreiung gesehen haben von bestimmten Lasten, aber ihre wirtschaftliche Abhängigkeit ist geblieben. Diese Abhängigkeit wurde sogar eher durch die schwierige Gesamtsituation verschärft. Insoweit kann man schon nachvoll- ziehen, warum nicht unerhebliche Teile der Bevölkerung, dass wenn es formal keine Besatzung war, diese als Besatzung empfunden haben. Den Rheinländern wird unterstellt, dass sie treulose Tomaten sind. Die haben jetzt hier zwanzig Jahre Franzosenzeit hinter sich und wollen auch manche Errungenschaften nicht abgeben, aber die neue Loyalität zum neuen Herrscher, die ist nicht da.
Amelie Schumacher: Zum Schluss würde ich Sie gerne fragen, ob Sie die Franzosenherrschaft Napoleons im Rheinland als Unterdrückung oder Modernisierung beurteilen?
Guido von Büren: Das kommt auf die Perspektive an. Das lässt sich nicht so einfach generalisieren. Das hängt von den einzelnen Personen und ihrer Betroffenheit ab. Es gibt wie immer in Phasen großer Umbrüche (die Geschichtswissenschaft nennt diesen Zeitraum auch die Sattelzeit) Gewinner und Verlierer. Bestimmte Eliten haben es geschafft, oben zu bleiben. Dazu gehört der Adel, der erstmals prinzipiell in der Revolutionsregierungszeit in Verdacht steht, dieser wird unter Napoleon rehabilitiert und besetzt alle wichtigen Funktionen. Der Adel wird die napoleonische Zeit nicht als Unterdrückung wahrgenommen haben. Der einzelne steuerzahlende Bürger in Jülich, der vielleicht auch streng gläubig als Katholik auch seine Erfolgsfrömmigkeit frönen will, der hat das natürlich alles als Repression wahrgenommen und hat gesehen: So viel ist das mit Freiheit nicht. Die Freiheit, die Napoleon meint, ist nicht meine Freiheit. Das ist das Spannungsverhältnis, was diese Zeit so interessant macht. Ich glaube, man muss ein bisschen berücksichtigen oder im Hintergrund behaltend: Wie war es eigentlich vorher gewesen? Als 1789 die Französische Revolution losgeht, das Wetterleuchten am Firmament, hat das Rheinland das natürlich auch mitbekommen, auch die Jülicher selbstredend. Wenn man in Aufzeichnungen aus dem 18. Jahrhundert schaut, auf das klassische ancien regime, dann merkt man dort eine ganz große Unzufriedenheit mit den Zuständen, weil der Staat wenig transparent war. Wenn man sich Jülich anschaut, gab es in Jülich das Haupt- und Kriminalgericht für das Herzogtum Jülich. Dies war die höchste Instanz im Herzogtum Jülich bei z.B. Kapitalverbrechen. Diese wurden dann in Jülich verhandelt. Die Schöffen (Juristen) die im landesherrlichen Gericht vorsaßen, die bildeten gleichzeitig den Rat der Stadt Jülich. Aus ihrer Reihe wurde jeweils der Bürgermeister gewählt. Das heißt, de facto haben die Beamten, die Richter des Landesherrn, in Jülich das Sagen gehabt. Alle hatten sich dem zu beugen, was sie entschieden. In dem Sinne war dort eine riesige Unzufriedenheit, die sich erhofft, dass es in der Franzosenzeit alles anders wird. Die Enttäuschung ist am Ende trotzdem relativ groß gewesen, weil man schon gesehen hat, dass die Verwaltung „moderner“ und transparenter ist. Jedoch am Alltag der Leute hat sich nichts verändert. Im Zweifelsfall haben die Sachen, die auf dem Papier revolutionär neu waren, für den einzelnen keine Rolle gespielt. Ein schönes Beispiel ist trotzdem die standesamtliche Hochzeit, getrennt von der kirchlichen Hochzeit […]. Es ist ein Stück weit zu relativieren.


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