Start Magazin Titelstory Pole Pole, Pickel, Tor

Pole Pole, Pickel, Tor

Von der Nähe von Glück und Unglück

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Milan taumelt mehr recht als schlecht die letzten 150 Meter bis zur 4703 Meter hoch gelegenen Kibo-Hütte, völlig erschöpft von diesem schier endlosen Marsch über den Sattel des Kilimanjaro. Frederick, sein Guide, bringt ihm einen lauwarmen Tee, begleitet mit seiner tansanischen Weisheit: „Trinken, viel trinken und `pole pole´ (langsam, langsam) bringen dich sicher auf den Berg und wieder runter.“ Milan kann sich in diesem Moment nicht vorstellen, in rund sechs Stunden den siebenstündigen Gipfelaufstieg in Angriff zu nehmen. Er denkt an Zoë, sie will in Jülich feiern, für ihn ein Grund zur Flucht. Er trinkt seinen Tee aus und kriecht zu einer der letzten Pritschen in der Hütte. Rechts und links hört er leise Stimmen, Stöhnen und immer wieder ein leises Knacken. Er fragt sich, was das sein könnte und dann sieht er es: Aspirin, das aus den Blistern gelöst und in rauen Mengen eingeworfen wird.
Milan döst vor sich hin, sein Minimalziel ist erreicht. Er kann umdrehen. Es reicht, er ist fix und fertig. Sein Puls ist jenseits einer möglichen Entspannung, an Schlaf ist nicht zu denken. Der Unterschied zum Laufen ist, dass er liegt und sich nicht bewegt. Er wankt aus seinem Bett, verlässt die Hütte und übergibt sich – ohne sichtbares Ergebnis. Um Mitternacht bringt Frederick Tee und fragt ihn, ob er bereit sei. Milans Gehirn arbeitet nicht einwandfrei und er sagt, er will es versuchen. Er klettert aus dem Schlafsack, zieht alles an Kleidung an, was er dabei hat – zwei lange Unterhosen und eine Trekkinghose, T-Shirt, Langarm-Shirt, zwei Fleecepullis und die neue winddichte Goretex-Jacke, dicke Ski-Handschuhe, eine Wollmütze und die dicken Trekkingsocken.
Kurz nach Mitternacht brechen sie auf. Es ist windstill und der Sternenhimmel unbeschreiblich. Doch vor ihnen liegen fünf Kilometer Steilhang, 1000 Höhenmeter, für die sie sieben Stunden benötigen würden. Unglaublich.
Die ersten drei Stunden gehen vorbei, Milan bewegt sich besser als am Vortag, fühlt sich aus unerfindlichen Gründen besser – ´pole pole` – sehr langsam geht es Schritt für Schritt voran. Doch nach drei Uhr ändert sich alles. Der Weg wird steiler und sandiger, schwarze Lavaasche, ein Schritt, Höhengewinn geschätzte 15 Zentimeter.
Milans Puls steigt. Er kann seinen Pulsschlag hören, so pocht es. Die Schritte werden eine Qual. Nicht denken, weiter gehen. Ein Schritt – einatmen, ausatmen. Ein Schritt – einatmen, ausatmen. Die Schwäche kriecht ihm in die Glieder, er schwankt wie ein Betrunkener hin und her, das Gleichgewichtsgefühl spielt verrückt und Frederick muss ihn mehrmals festhalten. Trotz allem ist Milan gut unterwegs, denn hin und wieder überholt er eine Gruppe, die rastet, einige übergeben sich und müssen umkehren.
Doch dann kommt der Wind – eiskalter Wind. Es wird kalt, kälter als Milan es je erlebt hat. Das Thermometer in der Jackentasche zeigt –15 Grad Celsius an. Die Wasserflasche mit der Glucosemischung in seinem Rucksack ist gefroren, die Power-Riegel sind steinhart. Milans Bartstoppeln werden zu kleinen Eiszapfen, so wie man das von den Bildern der Pol- oder Himalaya-Expeditionen kennt.
Milans Stimmung sinkt in die Bereiche der Außentemperatur. Er überlegt umzukehren. Aber das macht keinen Sinn. Die Situation ist ausweglos. Mitten am Steilhang des Kilimanjaro in 5500 Metern Höhe betet er, dass diese verdammte Sonne endlich aufgehen soll. Milan ist am Ende, er gibt seinen Rucksack an Frederick ab. Er hat keine Kraft mehr. Das erste Mal in seinem Leben glaubt Milan, seinem Tod zu begegnen. Und hat keine Angst. Und dann sieht er sich: Damals, als er als 13-Jähriger das erste Mal für die C-Jugend der Frankonia Broich aufläuft…
Es war ein sonniger, aber kalter Samstag Anfang März. Ich zog meine Schuhputzschürze an, setzte mich in der Küche in die Ecke auf den kleinen Schemel und stellte die Schuhputzkiste neben mich. Zuerst brachte ich wie jeden Samstag die Fußballschuhe meiner älteren Brüder auf Hochglanz und dann putzte ich meine Schuhe. Vorsichtig, keine schwarze Schuhcreme durfte auf den weißen Streifen. Das Leder gut eingeschmiert und anschließend mit der Bürste poliert, bis alles glänzte. Dann die Schuhe in die Sporttasche und los ging es zum Abfahrtstreffpunkt. Alle stiegen in den beige-braun-gestreiften Kleinbus und wir fuhren nach Koslar. Im Bus nahm unser Trainer das Mikrofon und startete seine Durchsage:

Kopfball, Tooor! Foto: Veranstalter

„Test, Test, könnt Ihr mich alle hören?“
Der ganze Bus grölte: „Jawohl.“
„Jungs, heute habt Ihr ein schweres Spiel. Wir sind Tabellenführer und das wollen wir weiter bleiben.“
Wir grölten erneut und sangen: „Heja Heja Heja, Frankonia.“
Der Trainer ermahnte uns und fuhr fort:
„Die Viktoria ist Zweiter und wenn wir verlieren, sind sie punktgleich. Also, wenn wir Meister werden wollen, dann dürfen wir auf ihrem alten Acker nicht verlieren.“
„Wir schießen sie ab“, blökte Manu, unser Libero, dazwischen und alle grölten.
Silvio, unser Spielführer, verteilte die Trikots und wir zogen uns an. Endlich konnte ich das rot-gelb-gestreifte Trikot überstreifen, dazu die rote Hose und die rot-gelben Ringelstutzen, dahinter meine neuen Schienbeinschützer. Der Trainer gab die Mannschaftsaufstellung bekannt und sagte mir, dass ich erstmal draußen bleiben sollte. Ich hatte schon damit gerechnet, aber auf einen Einsatz gehofft. Das Spiel begann und es ging herauf und herunter. Wir waren spielbestimmend, aber die Stürmer trafen das Tor nicht oder scheiterten an dem hervorragenden Torwart.
Ich hoffte, in der Halbzeit eingewechselt zu werden. Doch der Trainer ließ die gleichen Elf weiterspielen. Die zweite Halbzeit glich der ersten, alles deutete bereits auf ein Unentschieden hin.
Und dann wurde ich doch noch eingewechselt. Ich sollte Linksaußen spielen. Das machte ich. Ich lief nach links und wartete dort gespannt und nervös, was passiert.
Und dann sah ich, wie Silvio den Ball auf der rechten Seite bekam, dort zwei Gegenspieler aussteigen ließ und an der Außenlinie entlang rannte. Ich rannte ebenfalls los in Richtung Tor. Hinter mir mein Gegenspieler und vor mir der Libero. Ich hoffte auf eine flache Flanke vor das Tor, dann könnte ich versuchen, in den Ball zu grätschen. Silvio flankte, aber er flankte hoch. „So ein Mist“, dachte ich. Der Ball kam näher, ging knapp über den Libero und kam genau auf mich zu. Den Ball musste ich köpfen. „Hoffentlich treffe ich ihn, hoffentlich köpfe ich nicht über das Tor“, schoss es mir durch den Kopf. Der Ball kam ideal und wenn ich jemals im richtigen Moment am richtigen Ort war, dann in diesem Moment. Ich traf den Ball mit der Stirn und mit Wucht und schaute hinterher. Fünf Meter bis zum Tor. Der Ball flog Richtung Tormitte und dort stand diese Katze von Torwart. Da sollte er eigentlich nicht hin. Ich war überzeugt, dass der Torwart ihn schon hatte, er riss die Hände nach oben. Zu spät. Ich hörte einen Torschrei. Der Ball zappelte im Netz und ich konnte es nicht fassen. Ich hatte gerade ein Tor geköpft. Silvio war als erster bei mir, umarmte mich und dann fielen alle anderen über mich her. Dann merkte ich, dass ich leicht an der Stirn blutete. Ich hatte den Ball mit meinem fettesten Pickel erwischt. Fünf Minuten später pfiff der Schiedsrichter das Spiel ab und ich wurde gefeiert. Auf der Rückfahrt im Bus war ich die Hauptperson, alle freuten sich mit mir und schon wurden die ersten Witze gemacht. „Der Milan schießt mit Pickeln Tore“, brüllten sie und ich lachte mit. Ich musste mitlachen, obwohl ich es überhaupt nicht lustig fand. Das war mir egal. Ich hatte das Tor geköpft. Nicht irgendein Tor, sondern das Tor, das vielleicht mehr als alle anderen dazu beigetragen hatte, dass wir mit der C-Jugend Meister geworden sind. Ich genoss dieses Glück bis zu diesem Moment, als Marlene auftauchte. Die wunderschöne Marlene. Alle waren scharf auf sie, doch ich vergötterte sie. Ich dachte Tag und Nacht an sie, an ihre Brüste, an ihre Stimme, an ihr schwarzes Haar. Und nun stand sie vor mir und nahm mich das erste Mal wahr, schaute mich an und sagte kichernd: „Wenn Du weiter solche Tore köpfst, die Pickel reichen locker, um Torschützenkönig zu werden. Übrigens habe ich gehört, dass der Torwart den Ball nach dem Spiel in die chemische Reinigung gebracht hat.“ Ich kann mich nicht mehr erinnern, was dann geschah. Irgendwer hatte eine Kiste Bier besorgt und ich trank meine ersten drei Biere…
Frederick schüttelt Milan und schubst ihn weiter. Weiter gehen, nicht stehenbleiben und der Kopf muss oben bleiben, noch zwölf Minuten. Doch warum muss er jetzt an diese alte Geschichte denken? Jahrelang hatte er darunter gelitten, dass sein glücklichster Moment so nah mit seinem unglücklichsten zusammenlag. Und auch die Nacht mit Marlene 15 Jahre später war nur eine Rache, die ihn nicht heilte.
Endlich wird es etwas heller. Hinter dem nun unter ihnen liegenden Mawensi-Krater kündigt sich ein fantastischer Sonnenaufgang in allen Rottönen an. Und mit dem ersten Strahl der Sonne entdeckt Milans Körper neue Kraftreserven: Freude, Glück, Kraft, Mut, Empathie – alles ist plötzlich wieder da und schießt durch seinen Körper. Die Erschöpfung, die Angst und die Melancholie – weg. Die letzten Meter müssen noch einmal richtig über dicke Felsbrocken geklettert werden. Pünktlich zum Sonnenaufgang um kurz vor sieben Uhr erreicht Milan „Gilmans Point“, die Welt umarmend, den Gipfel des Kilimanjaro…

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