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Quanten-Kino

11,3 Millionen Euro für Superzeitlupen-Mikroskopie von Elektronen. Physiker aus Jülich, Marburg, Regensburg und Graz erhalten ERC Synergy Grant für räumlich und zeitlich ultrahochaufgelöste Aufnahmen von Elektronenorbitalen

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Projektkoordinator Prof. Stefan Tautz vom Forschungszentrum Jülich Foto: Forschungszentrum Jülich / Sascha Kreklau
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Unfassbar schnelle Quantenprozesse und chemische Reaktionen wie im Kino in höchster Auflösung beobachten: Das ist das Ziel des Projekts „Orbital Cinema“, für das Physiker des koordinierenden Forschungszentrums Jülich sowie der Universitäten in Marburg, Regensburg und Graz heute einen der begehrten ERC Synergy Grants des Europäischen Forschungsrats (ERC) erhalten haben. Die Forscher wollen erstmalig die blitzartigen Bewegungen von Elektronen in Molekülen in ultraschneller Zeitlupe erfassen. Auf revolutionäre Art soll so ein direkter Einblick in die innere Struktur von Quantensprüngen und Ladungstransferprozessen ermöglicht und gezeigt werden, wie sich chemische Reaktionen durch elektrische Felder und Licht steuern lassen.

Elektronen sind faszinierende Teilchen. Nach den merkwürdigen Gesetzmäßigkeiten der Quantenmechanik haben sie keinen festen Aufenthaltsort. Stattdessen schwirren sie mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit in Raumbereichen herum, die auch als Orbitale bezeichnet werden. Ihre Form erinnert an Luftballons oder Seifenblasen, welche die Atomkerne umlagern. Das große wissenschaftliche Interesse hängt damit zusammen, dass Orbitale als Schlüssel gelten, um chemische Reaktionen und Quantenprozesse etwa in Quantencomputern oder Solarzellen besser zu verstehen.

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Der Europäische Forschungsrat ERC hat den Physikern Prof. Stefan Tautz vom Forschungszentrum Jülich, Prof. Ulrich Höfer von der Philipps-Universität Marburg, Prof. Rupert Huber von der Universität Regensburg und Prof. Peter Puschnig von der Universität Graz für die weitere Erforschung dieser Orbitale nun eine der höchsten europäischen Auszeichnungen verliehen, einen mit 11,3 Millionen Euro dotierten Synergy Grant. Der Preis ist nur im Team zu gewinnen, der ERC fördert mit dieser Kategorie wissenschaftlich bahnbrechende Vorhaben etablierter Spitzenforscher:innen, die von einer einzelnen Arbeitsgruppe allein nicht adressiert werden können.

Die vier Physiker aus Deutschland und Österreich haben sich zum Ziel gesetzt, Orbitale nicht nur in Standbildern, sondern in einer Art „Orbitalkinematographie“ zu verfolgen. Die Messlatte könnte kaum höher liegen: Elektronenorbitale sind winzig; gleichzeitig bewegen sie sich auf aberwitzig kurzen Zeitskalen. Um diese „Mission Impossible“ zu bewältigen, planen die Physiker eine völlig neue Art von Superzeitlupen-Mikroskopen.

„Wir wollen wie in Zeitlupe sehen, wie sich Orbitale verändern, wenn sich chemische Bindungen bilden oder lösen“, erklärt Stefan Tautz vom Forschungszentrum Jülich, der das Projekt koordiniert. „In den Natur- und Lebenswissenschaften träumt man schon lange davon, Orbitale präzise erfassen zu können. Die Herausforderung ist: Als quantenmechanische Größen lassen sie sich eigentlich gar nicht direkt beobachten“, so Tautz.

Möglich wird das nun dank der Synergie im Team. Peter Puschnig und Stefan Tautz demonstrierten gemeinsam mit ihrem Kollegen Mike Ramsey aus Graz vor einigen Jahren ein spektakuläres Abbildungsverfahren – die sogenannte Photoemissions-Orbital-Tomographie – mit dem ein Elektronenorbital so vollständig abgebildet werden kann, wie die Quantenmechanik dies zulässt.

Ein weiterer wichtiger Schritt gelang den Jülicher und Grazer Forschern 2021 gemeinsam mit der Arbeitsgruppe von Ulrich Höfer an der Universität Marburg. Unter Verwendung eines neuartigen Impulsmikroskops und eines speziellen Lasers konnten sie Schnappschüsse von Orbitalen mit extrem hoher Zeitauflösung – allerdings noch keinen Film – im Rahmen des von der DFG geförderten Sonderforschungsbereichs 1083 aufnehmen.

Die Arbeitsgruppe von Rupert Huber hat sich wiederum darauf spezialisiert, Vorgänge zu verfolgen, die schneller als eine einzige Lichtschwingungsperiode ablaufen. Gemeinsam mit Ulrich Höfer hat die Gruppe 2018 gezeigt, dass filmische Aufnahmen in der erforderlichen zeitlichen Auflösung prinzipiell möglich sind. Die Forscher hatten direkt visualisiert, wie Lichtfelder Elektronen durch einen Festkörper beschleunigen.

„Die Kombination unserer Expertisen im ERC Synergy Projekt schafft nun etwas radikal Neues“, freut sich Stefan Tautz, „nämlich ein Quantenlabor, indem man direkt verfolgen kann, wie Lichtfelder Orbitale dynamisch formen.“

Die Physiker versprechen sich Antworten auf eine ganze Reihe grundlegender Fragen. „Das Verfahren dürfte die Untersuchung grundlegender Prozesse und Phänomene in Molekülen revolutionieren, die von der ultraschnellen Dynamik der Elektronen abhängen und die mit einem breiten Spektrum an Anwendungen in Verbindung stehen. Das fängt an bei chemischen und biochemischen Reaktionen und reicht über die Photovoltaik, Photochemie und Optoelektronik der nächsten Generation bis hin zu neuartigen Elektronikbausteinen der Zukunft mit optischen Taktraten“, erläutert der Theoretiker Peter Puschnig von der Universität Graz.

Eine wichtige Rolle spielen dabei das neue Regensburger Zentrum für Ultraschnelle Nanoskopie (RUN) sowie das geplante Jülicher Helmholtz Quantum Center (HQC). „In ‚Orbital Cinema‘ peilen wir Attosekunden-Zeitauflösung an. Eine Attosekunde beträgt 10-18 Sekunden, also den milliardstel Teil einer Milliardstel Sekunde; die Attosekunde verhält sich zur Sekunde wie eine Sekunde zum doppelten Alter des Universums. Selbst Prozesse, die bislang als instantan betrachtet wurden, wie etwa elektronische Quantensprünge zwischen Orbitalen, sollten auf der Attosekundenskala ihre interne Struktur offenbaren“, erklärt Ulrich Höfer, der das neue Attosekundenexperiment gemeinsam mit Rupert Huber im Regensburg Center for Ultrafast Nanoscopy (RUN) aufbauen wird.

„Was wir uns vorgenommen haben, ist eine völlig neuartige Expedition in den Nanokosmos. Es gibt eine Reihe bekannter Hypothesen über Orbitaldynamik, die für künftige Quantentechnologien relevant sind. Diese werden wir auf jeden Fall überprüfen“, sagt Rupert Huber, der für seine Forschung 2019 mit dem renommierten Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis ausgezeichnet wurde. „Wir rechnen aber auch mit dem Unerwarteten. Immerhin werden unsere Kinofilme die Welt auf Längen- und Zeitskalen zeigen, die noch nie zuvor ein Mensch gesehen hat.“


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