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Gelernt ist gelernt?

Sie bieten Opfern von häuslicher Gewalt Hilfe an, organisieren Workshops für junge Frauen als Präventionsmaßnahmen und haben ein Ziel: Frauen sollen selbstbestimmt leben und freie Entscheidungen treffen können. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, oder nicht? Die Engagierten in der Frauenberatungsstelle in Jülich teilen die Erkenntnis, dass althergebrachte Rollenbilder sich bis heute gehalten haben. "Es ist noch viel zu tun", sagt Maria Brenners. Ein Gespräch zum Weltfrauentag am 8. März.

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Foto: Volker Goebels
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Ein Mann schlägt einer Frau auf den „Hintern“. Die umstehende Gruppe aus Frauen und Männern reagiert amüsiert bis johlend bestätigend. Eine Situation, wie sie täglich vorkommt.

Antonia Makrellis: Die geschilderten Situationen sind Sozialisationen, in denen Mädchen und Frauen groß geworden sind – und die Jungs auch. Es war eben lange ,ok’.

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Annette Schumacher: Es macht hilflos, weil man weiß, dass man aus dem Kreis keine Unterstützung bekommt.

Dagmar Ahrens: Oder es heißt: „Stell Dich mal nicht so an!“

Daniela Halfmann: Oder: „Der findet Dich halt gut.“

Annette Schumacher: Oder: „Das war ja nett gemeint. Das ist ein Kompliment.“

Daniela Halfmann: Ein großer Teil unserer Arbeit ist die Selbstwirksamkeit: Wie können wir Frauen und Mädchen so stärken, dass sie aus sich heraus Handlungen und Strategien finden, um sich selbst zu schützen.

Antonia Makrellis: Mädchen und Frauen müssen verstehen: „Das muss ich nicht aushalten und vielleicht habe ich das auch falsch gelernt.“ Das braucht viel Arbeit und Zeit.

Annette Schumacher: Der Klapps auf den Po ist ein harmloses Beispiel. Aber wie sehr ist man erpicht darauf, sich verletzlich zu machen und Schlimmeres zu erleben als das. Jede Situation, die ich als unangenehm klassifiziere und versuche zu besprechen, führt zu Schlimmerem. Die Sorge: Er läuft mir auf dem Heimweg hinterher, um sich zu holen, was er nicht bekommen hat. Die Frauengruppe, die sich zusammenschließt, ist ein super hilfreiches Mittel. Aber was eben auch zur Sozialisierung gehört, ist, dass Frauen Männern gefallen wollen. Sie fragen sich dann: Was sagt es über mich, wenn ich mich wehre? Warum bin ich so eine Dramaqueen? Wir schieben als Frauen das Problem prinzipiell uns selbst zu.

Antonia Makrellis: In unseren Workshops zum Thema KO-Tropfen versuchen wir, vorher die Folgen bewusst zu machen. Es ist wichtig, sich vorher klar zu machen, was passieren kann, und sich zu vergewissern: Wir halten zusammen. Es ist wichtig, konkret auszusprechen, dass eine Vergewaltigung und sexueller Missbrauch zu jeder Zeit passieren kann. Man sollte auch vorher schon klären, mit welcher Vertrauensperson man in dem Fall sprechen würde – auch wenn es peinlich ist oder man sich nicht mehr erinnert. Es heißt immer noch ganz oft: „Wenn Du so einen Rock anhast, dann musst Du Dich nicht wundern.“ Das passiert immer noch ständig.

Annette Schumacher: Was viele beim Feminismus fehlinterpretieren: Frauen wollen sich besser stellen als Männer. Das ist nicht das Thema. Es geht darum, dass Frauen die bewertungsfreie Wahlfreiheit haben. Wie sehe ich aus? Was ist mein Job? Bin ich Hausfrau und Mutter?

Daniela Halfmann: Vielleicht will ich ja keine Kinder!

Annette Schumacher: Was ist das, was ich tief im Innersten will? Und bei seinem Gegenüber auf einen respektvollen Umgang zu treffen, weil niemand darüber bestimmen sollen dürfte, was eine Frau möchte. Das wäre hervorragend. Es gibt diese Optionen es nicht. Frausein ist immer politisch.

Antonia Makrellis: Um wirklich etwas zu verändern, braucht es beide Geschlechter.

Maria Brenners: Es ist ein strukturelles Problem. Wenn es nach wie vor salonfähig ist, sich nicht frauenfreundlich zu verhalten, dann wird sich nichts tun. Darum wäre es alternativlos wichtig, dass es Präventionsangebote für Jungen und Männer gibt. Damit das Männerbild eine Aufweichung erlebt, damit sie sagen können: Ich möchte meine Rolle nicht mehr so ausfüllen. Ich will nicht immer der sein, der Bohrmaschine benutzt, sondern auch der, der schwach sein kann und trotzdem kein Waschlappen ist. Dafür braucht es Angebote für den Jungenbereich.

Thema: Gewalt gegen Frauen

Maria Brenner: Ein entscheidender Wendepunkt in der Wahrnehmung von Gewalt gegen Frauen ist die Vorstellung der Kriminalstatistischen Auswertung Partnerschaftsgewalt des Bundeskriminalamtes (BKA) der damaligen Familienministerin Franziska Giffey 2019 gewesen: „An fast jedem dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet.“ „Und das Und alle 45 Minuten wird – statistisch gesehen – eine Frau Opfer von vollendeter und versuchter gefährlicher Körperverletzung durch Partnerschaftsgewalt.“ Und das in den Tagesthemen – so plastisch, drastisch muss es formuliert werden und das hat bislang keiner gemacht.

In der Wahrnehmung ist es Nischenproblem

Annette Schumacher: Es sind die Assi-Familien im Hochhausblock, die sich aufs Maul hauen. Das ist ein Systemimmanentes und strukturelles Problem. Leute aus den unterschiedlichen Schichten haben nur unterschiedlich gelernt, nicht darüber zu sprechen. Es ist überhaupt nicht deutlich, wie oft Frauen einer Situation ausgesetzt sind, die sich als Übergriff klassifizieren – es muss ja nicht zwangsläufig der schlagende Partner sein. Aber wenn man mit seinen Freundinnen darüber spricht, wie oft ist Dir ungefragt an den Hintern gefasst worden, wie oft bist Du geküsst worden, wie oft wirst Du beim Feiern an der Taille statt an der Schulter beiseite geschoben? Wie oft wird Dein Intimraum verletzt, so das man meint, man muss unbedingt die Hände waschen. Diese Diskussion macht keinen Spaß, mit Freundinnen zu führen, ist aber für jede der Frauen, die im Raum sind, können es nachvollziehen. Ins Bewusstsein zu holen, dass das Situationen sind, die eigentlich nicht passieren sollten.

Maria Brenners: Häufig kommt Frauenberatung als Luxusvariante um die Ecke. Der Name besagt es schon: Wir sind eine reine Beratungsstelle für Frauen und Mädchen. Hier arbeiten nur Frauen. Hier haben Frauen einen Schutzraum für Frauen. Männliche Handwerker kommen nur hier herein, wenn kein Betrieb ist. Das ist die Exotenecke. Wir sind er Meinung, dass Jungen das gleiche Angebot brauchen, aber mit einem männlichen Pendant und anderen Inhalten. Es ist kein Luxus, das machen wir sehr bewusst. Unsere Frauen finden es gut, dass es hier ein männerfreier Raum ist und sich auch eine halbe Stunde vorher hinsetzen können und in Ruhe ein Buch lesen.

Antonia Makrellis: Was toll wäre, wenn es gleich viele Männerberatungsstellen gäbe, wo Männer sich Gedanken machen würden. Sie müssen Macht abgeben aber würden auch gewinnen. Diese Not, immer stark und groß zu sein, immer das Geld zu verdienen – das ist ja auch nicht gesund. Gut wäre, wenn separat der Gedanke entstehen würde. Es muss sich gesamtgesellschaftlich etwas ändern.

Mehr zu Angeboten der Frauenberatungsstelle unter frauenberatungsstelle-juelich.de


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