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Ausdruck purer Verletzlichkeit

Ein zartes Pflänzchen ist es, blass-blau, leicht zu übersehen. Der Ausdruck purer Verletzlichkeit. Und gleichzeitig stecken in seinem Name eine grundsätzliche Sehnsucht der Menschen. Das Vergiss-mein-nicht. Ein Name wie ein Flehen, die Inkarnation der innersten Ängste.

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Grafik: Daniel Grasmeier
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Am Bahnhof vor der großen Fahrt in ein anderes Leben geäußert schwingt stets die Melancholie des Abschieds, des wahrscheinlichen Niewiedersehens mit. Vergiss mich nicht! Der einzige Trumpf gegen die allmächtige Amnesie – auch die des Todes. Aber auch diese mit Endlichkeitscharakter. Es sei denn, der Name überdauert die Generationen, wird unsterblich – zumindest, solange es Menschen gibt. Obwohl: Je weiter die Erinnerung sich von dem Ereignis entfernt, desto unschärfer werden die Ränder zum historischen Faktum. Dafür scheint die überhöhte Legende immer stärker durch, der Glanz längst vergangener Epochen, der Ruhm scheinbar unvergänglicher und überwältigender Meta-Heroen, der süße Duft hinter uns gelassener Ären mit all ihren Ehren. Die gute alte Zeit. Ja, ja.

Jetzt hann ich verjesse, wat ich sache wollt…

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Was ist schlimmer: das Vergessen selbst oder die Angst davor? Die Angst, etwas vergessen zu haben? Die Angst, irgendwann, vielleicht bald, immer mehr zu vergessen?

Das Vergessen begleitet den Menschen sein ganzes Leben lang genau so wie die Angst vor dem Vergessen. Wir lassen uns von dieser Angst sogar in den schönsten Momenten bestimmen. Sie dominiert die Fahrt in den Urlaub: „Hast Du eigentlich den Herd abgedreht?“ „Ja, bestimmt. Aber beim Wasserhahn bin ich mir nicht so sicher…“ Kaum neigen sich die freien Tage dem Ende zu, da kommen die Vorbehalte wieder kurz vor Verlassen des Urlaubsorts zum Vorschein: „Haben wir bestimmt nichts vergessen?“ „Ich schau sicherheitshalber noch mal unter dem Bett nach!“

So manche Ehekrise wurde dadurch ausgelöst, dass man nicht binnen von Sekunden die passende Anwort auf die Frage fand: „Schatz! Weißt Du eigentlich, was heute für ein Tag ist?“ Wie einfach wäre doch die Entgegnung: „Sorry, habe ich leider vergessen!“ Das gäbe dann fünf Punkte für Originalität und einvernehmliches Beifallsgelächter von der zumeist männlichen Seite, aber dummerweise ein äußerst zeit- und womöglich auch geldaufwändiges Wiederhinausmanövrieren aus der Situation, wenn nicht sogar ein noch weit darüber hinausgehendes üppiges Honorar für den Scheidungsanwalt inklusive gleichzeitigem drastischen Minimieren des eigenen Vermögens.

Da wäre ein schlichtes Vergessen nicht nur das geringste Übel, sondern im Gegenteil noch äußerst angenehm, wenn auch kaum zu erwarten. Geht das Vergessen auch zuweilen mit der panischen Angst einher, etwas zu verpassen, so kann der Mensch es zuweilen nicht erwarten, etwas zu vergessen. Zumeist handelt es sich um negativ besetzte Momente. Liebesprobleme, Geldschwierigkeiten, fehlende Konfliktlösungen. Etwas in der Art.

Es gibt Menschen, die sollen sogar anfangen zu trinken, um etwas zu vergessen. Und dabei kommt es sogar zum Stress, wenn man vergessen hat, was man vergessen wollte. Wie schlimm kann die Lage noch werden, wenn man sich selbst an die schlimmen Dinge nicht mehr erinnern kann!

Denn die Eigenart der Erinnerung hängt eng mit der Identität eines Menschen zusammen. Und somit auch mit dem Verlust der Identität. Kaum etwas beschäftigt den Menschen so sehr wie seine Aufgabe im Leben, und folglich etwas zu sein. Oder vielmehr jemand. „Was ist er denn?“ oder „Was macht er?“, lauteten vor nicht allzu langer Zeit die ersten Fragen der Eltern nach dem neuen Lebenspartner des Nachwuchses. „Wie schrief de sich?“, heißt es treffend im Rheinischen. Oder anders gesagt: „Is dat ne Hungk oder ne Katz?“ Am besten war dann immer die Antwort: „Dä hätt jet an de Fööss!“ In Hochdeutsch wäre den Altvorderen also am liebsten, wenn es ein Hund mit etwas an den Füßen sei. Falls nicht: „Kannze verjesse!“

Jemand zu sein, an den man sich erinnert. Das ist die Zielformel für den Lebensweg etlicher Menschen. In der englischen Literatur und Liedgut ist die Formel „to be someone“ gleichbedeutend mit der Tatsache, dass man es geschafft hat. Die Erfüllung geheimster Träume oder auch völlig offener Wünsche.

Andererseits unvorstellbar, jemand gewesen zu sein, also nun ein Niemand, dessen Dasein gänzlich aus dem kollektiven Bewusstsein verschwunden ist: An den kann ich mich überhaupt nicht mehr erinnern… Aber das war doch der Held meiner Jugend! Und am schlimmsten, wenn man selber dieser einstige Held gewesen sein sollte.

Auch die Bestätigung des eigenen Erinnerns ist ein ganz wichtiger Bestandteil in der Identität des Einzelnen wiederum im kollektiven Miteinander der Jugendfreunde und Jugendbekanntschaften. Ein „Weißt Du noch?“ ist nicht nur ein bloßes Erinnern oder Nicht-Vergessen-Wollen der Kindheit, sondern vor allem auch die Bestätigung, dass man tatsächlich einmal jung gewesen ist. Und diese Bestätigung benötigt man von jemand anderem. Denn man selbst könnte ja auch reine Illusion sein.

„Eines Nachts träumte Zhuang Zhou, er wäre ein Schmetterling, der mit sorgloser Leichtigkeit herumflog. Der Traum war so real, dass er, als er erwachte, sich fragte, ob er Zhunag Zhou war, der geträumt hatte, er sei ein Schmetterling, oder ob er wirklich ein Schmetterling war, der träumte, er sei Zhuang Zhou. Wenn ein Traum real scheint, wie kann man feststellen, was die Realität ist?“

Und manch ein Traum birgt die Angst, irgendwo vergessen worden zu sein. Ein Kindheitstrauma, das den ein oder anderen auch durchaus im älteren Leben befallen kann. Von den Eltern im Kaufhaus vergessen worden zu sein, irrt man durch die Menschentrauben gesichtsloser Massen, bekannte Antlitze, die im nächsten Augenblick verschwunden sind, sobald man sich kurz umgedreht hat. In der Hoffnung, man findet die Eltern, die Bezugspersonen wieder.

Und was, wenn diese Bezugspersonen sich nicht nicht mehr erinnern: an ihre Töchter, Söhne, Anverwandte und Bekannte? Das Wichtige ist doch, dass diese nicht vergessen. Dass sie wissen, dass es ihre Mutter, ihr Vater, ihre Anverwandten und immer noch Bekannten sind. Sie tragen die Erinnerung für die Nachwelt weiter, sind Dokumentation, Poesiealbum, Rezeptbuch und Lexikon in einem.

Es wird immer ein Aufgabe der Menschen sein, Erinnerung weiterzutragen. Die Erinnerung zu übernehmen für diejenigen, die sich nicht mehr gut erinnern können, und auch für diejenigen, die sich nicht mehr gut erinnern wollen. Oder es auch keine Zeitzeugen mehr gibt, die aus ihrer Erinnerung erzählen könnten.

Und natürlich schwingt dabei die mittlerweile nicht mehr so ganz junge Vergangenheit mit. Eine Erinnerung, die auch in einem Fall wie Halle die Vergangenheit nachhallen lässt. Eine Aufgabe, der sich auch die Jülicher Gesellschaft gegen das Vergessen und für die Toleranz verschrieben hat. Die Frage ist jedoch, wie sinnvoll es ist, denjenigen gegenüber tolerant zu sein, die bewusst und partout mit voller Absicht vergessen wollen und sogar die Erinnerung anderer an bestimmte Ereignisse zu leugnen. Das ganz bewusste Vergessen.

Diesem bewussten Vergessen treten die Jülicher Aktionen im November entgegen, die an die Reichspogromnacht und die Judenverfolgung genau so wie an den Krieg und die Zerstörung Jülichs sowie den damit verbundenen Folgen erinnern und damit den Blick auf den Tod unzähliger Menschen richten, deren Namen und Gesichter noch im Bewusstsein unserer Eltern und Großeltern wach waren. Deshalb dürfen diese Jülicher Aktionen keine lästige Pflichterfüllung, sondern müssen Überzeugungstaten sein. Auch wenn die Frage nicht zu klären ist, was überhaupt Menschlichkeit ist. Stärke gibt es nur in Gemeinschaft, und Gemeinschaft bedeutet auch immer den Schutz der Schwächeren durch die Stärkeren.

Denn auch die schwachen Glieder der Gesellschaft sind zarte Pflänzchen, blass, verletzlich und leicht zu übersehen. Niemand darf vergessen werden.


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