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Blüte

In der Blüte meiner Jahre stehe ich nicht mehr unbedingt. Ich erinnere mich immerhin noch, was das sein könnte…

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Grafik: Daniel Grasmeier
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Ach ja, der Frühling ist vorbei, schon haben wir wieder Juni. Es blüht in den Gärten, jedenfalls in denen, die noch nicht zugeschottert und versplittet sind. Eine seltsame, hoffentlich vorübergehende Zeiterscheinung, dass selbst Vorgärten, deren wöchentliche Pflege keinen größeren Aufwand darstellt, in Steinwüsten verwandelt werden.

So toll ist das Fernsehprogramm ja nun nicht, dass man für die Pflege von 5 Quadratmetern Rasen, 3 Sträuchern und ein paar Blumen keine Zeit mehr finden könnte. Und das Smartphone kann man ja bei dieser, wie bei allen anderen Betätigungen auch, stets mit sich führen und Fotos eines gelungenen kleinen Beetarrangements verschicken… Auch wenn es dafür nicht so viele Likes gibt wie für das gleichzeitig mehrfach eintreffende Video eines Welpen, der sich in irgendeiner Küche dank glatter Fliesen auf die Schnauze legt.

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Blüten des Internets und gelangweilter Unbedarftheit… Die leider keinerlei wirklich brauchbare Früchte erzeugen und hinterlassen. So schön oder unscheinbar Blüten denn auch sein mögen, dies ist schließlich ihr eigentlicher Sinn: Früchte zu tragen. Zur wunderschönen, aber darüber hinaus ertraglosen Zierkirschblüte in Dingshausen setzt man sich ins Auto, macht die üblichen Fotos, schick, verschick-schick. An der monokulturellen Rapsblüte findet man immerhin das Gelb ansprechend – doch die gar nicht so unattraktiven Blüten der Kartoffeln interessieren selbst den passioniertesten Pommesgourmand wie den mayolastigen Frittenfresser kein bisschen. Da kommt aber was bei raus und rum: Lebensmittel. Irgendwann und irgendwie ging da wohl mal der Zusammenhang verloren.

Und was Zusammenhänge betrifft: Wer, bitte, befruchtet all das Geblühe der Blüten? Jedenfalls keine Touristen oder Konsumenten. Da bedarf es immer noch dieser kleinen Lebewesen, deren diesbezüglicher Wert ihre bisweilen gefühlte Lästigkeit bei Weitem überwiegt. Auch Wespen gehören dazu, nicht nur puschelige Hummeln, ebenso seltsame Käfer und die ebenfalls immer seltener werdenden Schmetterlinge. Was würden Sie davon halten, wenn Ihnen die Speisekammer zubetoniert oder deren Inhalt vergiftet wird? Womit wir – leider – wieder bei obigen Vor- und Gartenödnissen sind, von agrarischen quadratkilometergroßen Monokulturwüsten und deren Glyphosatbedürftigkeit mal ganz abgesehen.

Immer noch finden wir Blüten – die untergejubelten im Portemonnaie ausgenommen – wunderbar. Und dekorieren unseren Tisch dann schon mal gerne mit Tulpen und anderem optisch erfreulichem Geblühe nicht nur in der Saison, sondern ganzjährig. Die Tulpen kommen dann meist eher nicht aus Amsterdam, sondern aus Afrika „frisch“ eingeflogen. Bräuchte man diese Felder und das dafür verbrauchte Wasser etc. nicht besser zur Herstellung von wirklichen „Lebensmitteln“?

Seltsame Zeiten. Ich konnte meine Mutter noch mit einem selbstgepflückten Feldblumenstrauß erfreuen. Leider finde ich heute nicht mehr viel zu pflücken, auch nicht am „Wegesrain“ des picobello asphaltierten Ruruferradwegs. Tja, wer´s nicht kennt, vermisst es nicht. Also doch ein preiswerter Discounter-Strauß zum Valentins-, Mutter- oder Geburtstag. Den würde man allerdings vermissen, wenn er nicht mehr rechtzeitig erhältlich wäre.

Mein „Rasen“ jedenfalls blüht – durchsetzt von Löwenzahn und anderem Gewächs, dessen Namen ich nicht kenne, bevor demnächst wahrscheinlich wieder seine „Sommerbräune“ einsetzt, dem Klimawandel sei Dank und all denen, die diese auch gerne im Winter hätten – natürlich (?) vorweisbar auf der Epidermis, auf der bei einigen eh nur noch wenig Platz zwischen den Tattoos ist.

Naja, im Gegensatz zum Klima hat sich mein Rasen bisher immer wieder zumindest kurzzeitig erholt – und ich bin ja auch kein Golfspieler, der sein Handicap verbessern muss, weil er ein ganz anderes hat.

Wem das nicht Blüten menschlicher Eigenartigkeit genug waren, dem brauche ich das Internet (s.o.) sicher nicht zu empfehlen, da findet man Sträuße von seltsamster Pracht. Shari F. bereitet ihr tägliches Frühstück mit 10tausend Followern, die darüber ihr eigenes vergessend oder es nicht schmeckend in sich hineinstopfen… Um nur ein vergleichsweise harmloses Beispiel zu nennen. Ja, „natürlich“ kann man stattdessen auch den botanischen Namen einer wunderschön blühenden Pflanze googeln – aber was sagt mir ein gefundenes Ergebnis wie „Leontodon“? – da ich noch altsprachlich rudimentäre Schulkenntnisse besitze, nur übersetzt: wieder „Löwenzahn“! – und zusätzliche Informationen über seine Ausbreitung und Blühzeit sind mir längst bekannt.

Und so knie ich mich lieber auf meinen Rasen, halte meine Nase in dieses sonnige Blütengelb, atme tief ein, rieche den einzigartigen Duft, pflücke den danebenstehenden filigranen Samenball und blase ihn in die Natur: Pusteblume! Die wird immer und immer wieder blühen…

Und unter derartigen lebendigen Blüten möchte ich dereinst lieber liegen als unter einem Stein, der mein Totsein in seiner Materialität nur bestätigt. Also blühe ich beim Duft und der Schönheit selbst der unscheinbarsten Blüten mit auf und lasse mich nicht nur bestäuben – äh, betäuben – mit und von menschlichen Seltsamkeitsblüten und Versprechensfrüchten, die ich nie ernten werde.

In diesem Sinne, lieber Leser: Nutze Deine Sinne, genieße, was da blüht – es blüht uns noch ganz anderes… Das erwähne ich jetzt aber nicht, zumindest mein Artikel soll positiv enden…


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