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Bühnenreif?

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Illustration Sopio Kiknavlidze
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Tatatataaaa! Wer „Vorhang auf“ hört, der denkt gleich den Tusch mit. Eine große Vorstellung wird erwartet. Die Stadt Jülich hat gleich zum Monatsstart ihren großen Auftritt und bereitet auf drei Bühnen sowie jeder Menge Raum dazwischen ein Fest, das es so noch nie gegeben hat. Premiere für das Pasqualini-Zeitsprung-Festival.

Wer sich auf eine Bühne stellt, der macht sich „parat“, bereitet sich vor, um besonders gut auszusehen und eine perfekte Vorstellung abzuliefern. 44 Monate lang haben rund 50 Menschen im Hintergrund gearbeitet, damit die Premiere gelingt. Knapp 30 unterschiedliche Vorstellungen von Musik über Theater, Walking Acts bis Tanz und historischen Darbietungen erwarten die Gäste beim dreitägigen Festival in den Bereichen Kultur, Geschichte und Wissenschaft. Start ist am Freitag um 14 Uhr, der letzte Vorhang hebt sich am Sonntag um 18 Uhr – non stop Programm. Wenn das kein Auftritt ist!

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Sobald Akteure die Bühne betreten, richtet sich – wenn manchmal auch nur im übertragenen Sinne – der Scheinwerfer auf das Geschehen. Hier wird alles beleuchtet, was sonst vielleicht im Verborgenen bleiben würde. Das gilt im übrigen für alle öffentlichen Auftritte – auch in der Innenstadt. Eine gewisse Art der „Präsentation“ wird schon erwartet; oder besser gesagt: Benehmen. Wie das ausgelegt wird, entbehrt inzwischen des gesamtgesellschaftlichen Verständnisses.

Was gehört eigentlich noch zum guten Ton? Was fällt unter die Kategorie „das gehört sich nicht“? Oder ist schon der Satz eher Relikt der vergangenen Generation?

Wie steht es mit Nasebohren in der Öffentlichkeit? Oder Puhlen in anderen Körperöffnungen? Ist der Griff in den (eigenen!) Schritt für Fußballspieler und Tänzer wie Michael Jackson im millionenfach abgespielten Video in Ordnung? Was ist aber, wenn ihn Nicht-Promis im Alltag nachahmen? Sollte das Ablecken von Messern den eigenen vier Wänden vorbehalten bleiben oder geht das auch im Restaurant? Apropos Restaurant: Bauchfrei ist längst in Schulen und Städten angekommen, aber im Bikini oder Badehose geht zumindest in unseren Breiten niemand in ein Lokal oder eine Kneipe. In Frankreich und Spanien gibt es dafür in Badeorten eigens eine Kleider(an)ordnung. Verstöße werden mit Knöllchen belegt. Witzig, oder? Macht man doch nicht… Offenbar aber schon. Wer erinnert sich noch, dass es das Dekolleté der ehemaligen Bundeskanzlerin Merkel bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth sogar in die Tagesschau geschafft hat? Wäre das abseits des Sommerlochs heute noch denkbar?

So vieles ist inzwischen mach- und sagbar geworden. Adolph Freiherr Knigge, der einst das Buch „Über den Umgang mit Menschen“ schrieb, rotiert vermutlich in seiner Grabstätte. Eine Türe aufhalten, jemandem den Vortritt lassen, unverbindlich freundlich sein und vielleicht sogar lächeln, „Bitte“ und „Danke“ sagen – das kann das Leben für Sekunden schöner und für alle einfacher machen. Denn Hand aufs Herz: Wenn es einem selbst widerfährt, freut man sich. Einfach so.

Realität ist aber, dass es heute nicht unüblich ist, zur Begrüßung statt Handschlag – oder dereinst Handkuss – die Hände nicht einmal aus den Hosentaschen zu nehmen. Glück hat, wer einen „Guten Tag“ oder „Auf Wiedersehen“ bei einer menschlichen Begegnung gewünscht bekommt, wenn er sich in einer Bäckerei oder Arztpraxis (beliebig zu ergänzen) aufhält. Schwerlich auszuhalten ist es für die Autorin, wenn sie beim Gegenüber dem tanzenden Kaugummi in der Mundöffnung zusehen muss und so vom gesprochenen Worte maßgeblich abgelenkt wird. Wer jetzt mit dem Finger auf „die Jugend“ zeigt und Sokrates beliebtes Zitat über die schon in der Antike schreckliche Jugend zur Sprache bringt, auf den weisen drei Finger zurück. Anstand ist keine Frage des Alters, des Geschlechts, der Nationalität oder Religionszugehörigkeit. Offenbar sind Anstand und Benimm in Verbindung mit wertschätzendem Umgang einfach in die Jahre gekommen. Es gibt keine – mir bekannte – allgemeingültige Verbindlichkeit mehr.

Was im alltäglichen Umgang auf der Strecke bleibt, wird in Bezug auf öffentliche Ämter noch offensichtlicher.
Die Kommunalwahl steht an. „Die Politiker“ und natürlich auch „die Politikerinnen“ stehen oft in der Kritik, Fehlurteile zu fällen, meist zugunsten ihrer Vorteile, aber selten zum Wohle der Wählenden zu entscheiden. Gerne werden diese Vorwürfe von jenen vorgebracht, die sich selbst nicht in die Verantwortung und Kritik begeben haben und begeben wollen. Diese Verantwortung zu delegieren, ist völlig legitim und genau das, was jede Einzelne und jeder Einzelne am 14. September unbedingt tun sollte: Das verbriefte und verfassungsgemäße Wahlrecht nutzen.

Erstmals tritt in unserer international geprägten Stadt der Vielfalt eine Partei an, die genau diese unsere Verfassung für nicht unumstößlich hält, Personengruppen pauschal abwertet, den Grundsatz der gleichen Menschenwürde eines jeden Individuums infrage stellt. Es geht bei der kommenden Wahl also um nichts weniger als eine Entscheidung über die Demokratie – auch für Jülich. Aus unserer Vergangenheit wissen wir:
Wer demokratisch gewählt wird, muss nicht demokratisch sein.

Ich höre schon hinter vorgehaltener Hand: „Protestwähler“. Im Ernst: Gegen welche politischen Entscheidungen sollte in Jülich protestiert werden? Jülich wächst, gedeiht und nimmt seine Verantwortung für Integration ernst. Die Frage muss doch lauten: Wer hat sich für die Menschen in Jülich in den vergangenen fünf Jahren eingesetzt und wer wird es vermutlich auch in Zukunft vor Ort tun?

Der moralische Maßstab, der bei Bewerbungen um politische Ämter und auch das Bürgermeisteramt angelegt wird, ist hoch. Das hat einen guten Grund und lange Tradition. Sogenannte „honorige Menschen“ wurden in dieses Amt gewählt, die durch Qualifikation und Einsatz für geeignet befunden wurden. Diese Menschen tragen Verantwortung für die Entwicklung und Perspektiven – in unserem Fall konkret für Jülich. Weder in den Netzwerken im Internet noch auf Youtube kann man lernen, wie Verantwortung „geht“. Demokratie wird im Miteinander eingeübt.

Wer sich die Mühe macht, im „Kleinen“, nämlich im Stadtrat und den Ausschüssen im Jülicher Rathaus, zu Gast zu sein, der wird feststellen, dass um Entscheidungen gerungen wird. So geht Demokratie. Die meisten Engagierten in der Lokalpolitik beschäftigen sich intensiv mit Themen, die zu entscheiden sind: Innenstadtgestaltung, Dorfentwicklung, Strukturwandel. Das erfordert neben dem Erwerbsberuf – hier sitzen ja keine hauptamtlich bezahlten Kräfte – im Ehrenamt viel Aufwand, Fleiß und überdurchschnittlichen Einsatz für die Gemeinschaft. Neben den Sitzungen gibt es Arbeitskreise, runde Tische zu Sachthemen, öffentliche Veranstaltungen wie auch Vereins-, Sport- und Dorffeste. Es werden Termine zu Mai- und Schützenumzügen wahrgenommen und das Brauchtum unterstützt.

So machen sich politisch Aktive, die ihr Amt ernst nehmen, bekannt. Sie zeigen Gesicht und den Wählenden, dass sie sie ernst nehmen und für sie ansprechbar sind. Hier müssen Familie und Freunde „mitziehen“, denn dieser Einsatz bedeutet aller Regel nach eine Einschränkung für die persönliche Freizeit und Freiheit.

Wer sich für ein Stadtratsmandat entscheidet, entscheidet sich also für weniger Freizeit und viel Einsatz für die Allgemeinheit. Außerdem leistet er einen Eid auf das Grundgesetz und die Verfassung.

All das gilt gleichermaßen für das Bürgermeisteramt. Der Unterschied: „Bürgermeister sein“ ist ein Hauptberuf, der 24 Stunden lang 7 Tage in der Woche Einsatz fordert. In Jülich müssen sich ihm 450 Angestellte anvertrauen – und seine Kooperationspartner ihm vertrauen. Eine Bürgermeisterkette gibt es nicht von der Stange. Sie ist äußeres Zeichen für ein Amt, das mit viel Verantwortung belegt ist – vermutlich ist sie darum auch so schwer.

Wir sind im Endspurt zur Wahl. Es wäre gut, wenn im Sinne der Jülicherinnen und Jülicher der Rest-Wahlkampf mit Anstand absolviert würde und so der Demokratie die große Bühne geboten würde.
Dorothée Schenk

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Dorothée Schenk
HERZOGin mit Leib und Seele. Mein HERZ schlägt Muttkrat, Redakteurin gelernt bei der Westdeutschen Zeitung in Neuss, Krefeld, Mönchengladbach und Magistra Artium der Kunstgeschichte mit Abschluss in Würzburg. Versehen mit sauerländer Dickkopf und rheinischem Frohsinn.

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