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Wurzeln

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Grafik: Daniel Grasmeier
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– ein ebenso tief liegendes wie tiefgründiges Thema, das der Herzog diesmal gewählt hat. Dafür muss man schon die Oberflächlichkeit angraben und etwas tiefer schürfen. Ziemlich unüblich in dieser Zeit, in der die Flachheit der Bildschirme die ihrer Betrachter oft nicht unterschreitet. Da wird gerne geglaubt wie gesehen / gelesen, ohne die Wurzeln der angeblichen Information auch nur versuchsweise zu er- oder gar zu hinterfragen. Der Hintergrund bleibt im Untergrund. Was in das jeweilige Weltbild passt, wird schon stimmen, sonst würde es ja wohl nicht im selbstgewählten Lieblingsmedium verbreitet. Was die Mitglieder meiner Filterblase glauben, kann nicht falsch sein, auch und gerade wenn die „nur“ aus hundert Bekloppten besteht. Der Rest ist Fake, Lüge oder min- destens interessengesteuerte Desinformation. Letzteres will ich durchaus gelten lassen, wenn es sich um Konzernverlautbarungen handelt: „Unsere Abgassoftware hat sich stets im gesetzlichen Rahmen befunden.“ Und da liegt der Knüppel beim Hund: trau, schau – wem.

Denn tief verwurzelt im Menschen sind zwei gegensätzlich erscheinende, doch einander bedingende Regungen: Man möchte zu „etwas“ dazugehören – und den Rest ausschließen. Dieses Prinzip haben besonders Religionen stets für sich äußerst nutzbringend angewandt. Weshalb auch die heutigen Verschwörungstheoretiker und –praktiker gerne religiösen, sektiererischen Charakter annehmen. Wer deren wo auch immer hergeholte Gewissheiten nicht annimmt, ist – „Ketzer“. So nannte man sie jedenfalls damals(?), band sie auf den Scheiterhaufen, und das Übel ging in Rauch auf.

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Heute wird man gegebenenfalls durch das Feuer des Mobbings oder Shitstorms getrieben. Ein unheimlicher moralischer Fortschritt, der Freiheiten für sich in Anspruch nimmt, indem er sie anderen abspricht. Die Form ändert wenig am Effekt. Die Betroffenen sind „verbrannt“.

Glauben sollte man allerdings erst, wo kein Wissen mehr möglich ist. Und da muss ich mich doch sehr wundern in diesem unserem Zeitalter, das über mehr Wissen verfügt als alle zuvor, und dieses Wissen per Internet sogar verfügbarer macht, als es je möglich war – was so alles geglaubt wird. Vielleicht ist das die zeitgenössische Wurzel des Übels: Es ist zu einfach schnell, etwas Informationsartiges aus dem Internet zu ziehen – und zu schwierig, langwierig den Wahrheitsgehalt dessen zu überprüfen. Bequemlichkeit trifft Denkfaulheit.

So leichtgläubig wie schwer gläubig sind besonders die, deren Wurzel unfähig ist, stabilisierende Seitenverbindungen zu entwickeln. Sie sind ureigentlich Entwurzelte, die längst keinen Boden mehr unter sich fühlen und sich nun mit letzter Kraft in den des Fanatismus bohren. Die kompostieren sich geschichtlich zwar selbst, nehmen aber gerne und zwangsläufig noch andere mit. Nichts wirklich Neues, nur mit neuer Technik.

Ja, doch, Wurzeln haben wir alle. Eltern zum Beispiel. Aus denen sind wir „entsprossen“, gewachsen. Wie gut und mit was sie uns gedüngt haben, stellt sich meist erst heraus, wenn sie es nicht mehr tun – oder wir es nicht mehr wollen. Dann zeigt sich: sind da Herzwurzeln – Verantwortungswurzeln – oder eher nie gebildete, verkümmerte, abgestorbene. Umgetopft wird allemal, spätestens in der Pubertät. Aus der finden manche gar nicht mehr heraus. Warum auch – derart unentwickelt kann man sogar Präsident werden. Andere verwurzeln sich in den Single-Container, ins Weiter-so-Beet, ins Patchwork-Treibhaus (in dem manche durchaus besser gedeihen als im ursprünglich engen Kernfamilienbehältnis) und was es an bis vor wenigen Jahrzehnten noch ungeahnten Möglichkeiten mittlerweile noch so gibt. Wenn ́s alle jeweils Beteiligten glücklich(!) macht, verbietet sich jeglicher Einspruch von anderer Seite.

Und noch eine Wurzel gibt es: Die wird Heimat genannt. Da gibt es (ich glaube von Jürgen Becker) so genannte „Heimathirsche“, die hoffen, „aus alter Wurzel neue Kraft“ schöpfen zu können… Naja, die lasse ich mal da, wo sie hingehören: beiseite. Wer sich gebürtig oder aus freier Wahl wohl und zugehörig zu dem Ort, an dem er sich befindet, fühlt, weiß, was ich meine. Unabhängig von dem, was im Oberbegriff „Vaterland“ genannt wird. Da darf, sollte, muss man auch mal nachdenkend und nachempfindend den entwurzelten Heimatlosen aus woher auch immer die Möglichkeit gestatten, hier eine neue zu finden. So sie dies denn hier und mit(!) uns wollen. Neophyten, die ihr Umfeld überwuchern, haben wir in der Pflanzenwelt seit Jahren genug – auch so eine gedankenlos vom Menschen verursachte „natürliche“ Erscheinung. Wie die nicht erst heute stattfindenden Völkerwanderungen. Wir werden die Wurzel des Übels nicht zu packen kriegen, denn das Wohlleben der einen basiert auf der Ausbeutung der anderen. Und das wird sich nicht wesentlich ändern, denn die Menschheit ist eine zwar multikulturelle, aber Monokultur. Und düngt sich „höher-schneller-weiter!“ selbst kaputt.

Auf eine Wurzelbehandlung mit „Vernunft“ bleibt unwahrscheinlicherweise zu hoffen…


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