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Erinnern, Gedenken und Mahnen

Ansprache von Heinz Spelthahn, Vorsitzender der Jülicher Gesellschaft gegen das Vergessen und für die Toleranz, zum Welt-Holocausttag und der Verleihung des Preises für Zivilcourage, Solidarität und Toleranz.

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Heinz Spelthahn. Foto: Arne Schenk
Heinz Spelthahn. Foto: Arne Schenk
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Ich begrüße Sie als Vorsitzender der Jülicher Gesellschaft ganz herzlich. Jeder einzelne von Ihnen hätte eine persönliche Begrüßung verdient. Das kann ich nicht leisten, aber fühlen Sie alle sich herzlich empfangen. Einzelne werde ich noch gesondert begrüßen und nicht alle auf einmal, sondern verteilt auf den ganzen Abend.

Zum 17. Mal veranstalten wir heute eine Feier aus Anlass des Welt-Holocausttages. Im Vordergrund steht dabei der Dreiklang aus „Erinnern, Gedenken und Mahnen“. Dieser Dreiklang begleitet die Jülicher Gesellschaft, seit sie vor fast 19 Jahren gegründet wurde.

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Wir haben uns nie mit dem Rückblick auf das furchtbare Geschehen mitten in Europa, mitten im 20. Jahrhundert begnügt, das seinen Anfang im Land der Dichter und Denker nahm und Millionen von Opfern forderte, die ohne jeden Grund und ohne Änderung des strafrechtlichen Verbots der Tötung von Menschen stattfand. Das Motiv, die Jülicher Gesellschaft zu gründen, nahm die Ereignisse auf, die nach der Wiedervereinigung in Deutschland geschahen. Fremdenhass, Mordanschläge auf Ausländer und Übergriffe gegen jüdische Menschen und Einrichtungen. Und das – um kein Missverständnis auszulösen – beileibe nicht nur nur in Ostdeutschland, sondern auch im Westen, hier bei uns. Solingen und Düsseldorf – beide Städte in NRW – seien hier nur stellvertretend genannt.

Und dazu passt, dass es das erste große Ziel unserer Gesellschaft war das Mahnmal auf dem Propst-Bechte-Platz zur Erinnerung an die ermordeten Juden des Jülicher Landes zu errichten. Das ist innerhalb von anderthalb Jahren durch die Mithilfe vieler, vieler Menschen und Institutionen gelungen.

Und dieses Mahnmal war und ist wichtig. Es steht im Weg. Wenigstens das Mahnmal erinnert an die ehemals reiche jüdische Kultur auch in Jülich und im Jülicher Land. Und es macht noch etwas anderes deutlich: Der Holocaust fand nicht ganz weit weg „nur“ in Auschwitz statt. Nein, „Auschwitz“ begann mitten unter uns, mitten in Jülich, Aldenhoven, Inden, Linnich und Titz. So begrüße ich hier herzlich den Jülicher Bürgermeister Axel Fuchs – und das nicht nur protokollarisch als ersten Bürger der Stadt Jülich und Hausherrn in der Schlosskapelle, vielmehr ausdrücklich auch als einen, dem gerade diese lokale Verankerung des Holocaust ein Herzensanliegen ist.

Herzlich willkommen Herr Bürgermeister Fuchs. Ich begrüße Sie auch erstmals als Mitglied des Kuratoriums unserer Gesellschaft. Der Veranstaltungsreigen aus Anlass der 80. Wiederkehr des Novemberpogroms 1938 beruht ganz wesentlich auf Ihrer Anregung, die lokale Verantwortung sichtbar zu machen und auch heute dazu zu stehen, und den 9. und den 16. November miteinander zu verbinden. Damit stehen Sie in der Tradition Ihres Vorgängers, von Bürgermeister Heinrich Stommel, der heute leider nicht bei uns sein kann.

Herzlich begrüßen möchte ich zwei Personen, die leider heute nicht unter uns weilen können. Und das ist vielleicht auch gut so: Denn so kann ich sie unbefangener begrüßen, als ich das in ihrer Anwesenheit tun würde.

Ich begrüße gerne zwei Mitbürger jüdischen Glaubens, alte Jülicher, die den Terror der Nazidiktatur in Jülich überlebt haben und heute noch in Jülich leben. Wenn der Landrat Ulrich von Mylius von Gut Linzenich im März 1941 Jülich als „judenfrei“ deklarierte, so war das Gottseidank falsch. Zwei Menschen, Frau A. Und Herr B. – keine realen Abkürzungen, sondern bewusste Anonyme – wurden von ihrer Familie, Freunden und Verwandten mit Erfolg geschützt. Wenn ich beide heute Abend ausdrücklich begrüße, so ist das wohl das erste Mal, dass dies seit Kriegsende in Jülich geschieht. Denn Jülich galt nach dem Krieg ebenfalls als „judenfrei“. Die einzigen Versuche von Mitgliedern der Familie Mendel, sich in Jülich wieder anzusiedeln, scheiterten – etwa gut zehn Jahre nach dem Kriegsende und nach dem Ende der Nazidiktatur.

Wir wissen seit ein paar Jahrzehnten von den beiden Jülicher jüdischen Überlebenden. Wir haben aber immer ihren Wunsch respektiert, nie als Juden angesehen oder angesprochen zu werden. Deshalb auch heute noch völlig anonym.

Ist Ihnen klar, was das bedeutet? Siebzig Jahre nach den Nazis trauen sich Juden in Jülich immer noch nicht und wohl nie mehr, sich zu ihrem Glauben zu bekennen. Was haben wir falsch gemacht?

Dazu gehört sicher auch, dass nach dem Krieg das Wirtschaftswunder wichtiger war als die Beschäftigung mit der Diktatur, in der kaum jemand ohne Schatten blieb.

Dazu gehört auch, dass wir immer noch mehr über Juden sprechen statt mit ihnen. Deshalb begrüße ich mit besonderer Freude zwei Menschen jüdischen Glaubens, die mit ihrem Können uns heute Abend beeindrucken und gern gesehen Gäste sind: Unsere Musiker Sofia Shapiro-Petrasch, Piano, und Rauf Berman, Violine. Herzlich willkommen.

Die Juden in Europa waren nicht die einzigen Opfer der deutschen Barbarei. Wir Deutschen haben uns nicht von Hitler und seinen Gefolgsleuten befreit. Es waren die Alliierten, die Deutschland niederringen mussten und uns die Demokratie verordneten.

Aber die Demokratie, die es in Deutschland seit 70 Jahren gibt, ist kein unumkehrbarer Garant für Freiheit und Frieden. Um so wichtiger ist es, gerade die jungen Leute, die Mehrheit von morgen, zu gewinnen, unsere Freiheit tagtäglich zu sichern und wiederzugewinnen. Nicht mit dem Zeitgeist, nicht mit dem Mainstream zu schwimmen, dazu muss man angehalten werden. Ich erwähne mit besonderer Freude, dass ich bei meinem Urlaub in Rio de Janeiro nicht nur mit Nachfahren Jülicher und Erkelenzer Juden zusammengetroffen bin, sondern auch den 21-jährigen Jurastudenten Artur getroffen habe, der örtlicher Sprecher der Jugendbewegung „Acredito“ (Ich bekenne mich…) in Sobral ist. Sie bekennt sich zu Demokratie und Freiheit, die in diesem fünftgrößten Land der Welt gefährdet sind.

Geschichte wiederholt sich nicht. Aber die Gefährdungen der Freiheit bleiben dieselben. Deshalb ist es auch wichtig zu wissen, was gestern war. Deshalb ist es wichtig zu wissen, warum es geschah. Und deshalb ist es wichtig, zu erinnern, zu gedenken und zu mahnen.

Diesem Dreiklang haben sich besonders die diesjährigen Preisträger unserer Preises für Zivilcourage, Solidarität und Toleranz angenommen. Ich begrüße ganz herzlich die Schüler und Lehrer unserer sieben Preisträger, die Schirmerschule, der Stephanusschule, des Gymnasiums Zitadelle, des Jülicher Berufskollegs, der Jülicher Sekundarschule, des Gymnasiums Haus Overbach, der Mädchengymnasiums Jülich. Herzlich willkommen. Sie sind es, auf die es ankommt, unserer Demokratie zu bewahren.

Zum Artikel Heute von gestern für morgen


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