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Vergessen? Erinnern? Handeln?

Der Holocaust als Prüfstein der deutschen Erinnerungskultur Rede anlässlich des Holocaust-Gedenktages von Marco Mario Emunds

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Marco Maria Emunds. Foto: Arne Schenk
Marco Maria Emunds. Foto: Arne Schenk
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Ein Blick auf das heutige Programm verrät, dass viel geredet werden wird. Und als wir im Vorstand diesen Abend geplant haben, hatte ich ehrlich gesagt Bedenken, ob eine weitere Rede, nämlich diese, nicht die eine Rede zu viel sein könnte.

Ich sage es direkt, es wird in Teilen sehr grundlegend und auch theoretisch, aber was mich am Ende überzeugt hat, doch heute hier für gut zehn Minuten um Ihre Aufmerksamkeit zu bitten, sind drei Einsichten der letzten Wochen und Monate.

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Zum einen hat man als Geschichtslehrer immer wieder mit Fragen von Erinnerung und Erinnerungskultur zu tun. Wir Geschichtslehrer sind sozusagen aktiver Teil von Erinnerungskultur.

Zum anderen reicht ein Blick in die Welt um zu erleben, wie die Erinnerungskultur, die sich in unserem Land in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, zunehmend infrage gestellt wird. Man muss nur an Ausdrücke wie „Denkmal der Schande“ denken.

Auch ein Blick in die USA macht deutlich, mit wie wenig Geschichtsverständnis und Geschichtsbewusstsein heute immer mehr Mächtige dieser Welt ausgestattet zu sein scheinen.

Nun gut, könnte man sagen, wozu braucht ein Präsident Geschichtsbewusstsein. Seine Aufgabe ist es, die Gegenwart und auch einen Teil der Zukunft zu gestalten, die Vergangenheit ist vorbei und abgeschlossen. Getreu dem Motto von Erich Honecker: „Vorwärts immer – rückwärts nimmer!“

Aber nicht Erich Honecker, sondern der Schriftsteller Elias Canetti hat recht, wenn er sagt: „Vorbei ist nicht vorüber.“ Es ist ein hartnäckiges Missverständnis, zu glauben, Erinnern sei eine rückwärtsgerichtete Haltung, die an der Vergangenheit festklebe. Erinnern ist aber vielmehr eine „anthropologische Universale“, wie es Aleida Assmann ausdrückt. Jeder Mensch, jede Gruppe, jede Gesellschaft ist unweigerlich auf Erinnerung angewiesen.

Sei es in den einfachsten Dingen des Lebens: die Technik des Ackerbaus und die Nutzung des Feuers, ebenso wie der gemeinsame Konsens, auf den sich eine komplexe Gesellschaft einigt und von dem aus sie ihr Zusammenleben organisiert.
Wem das zu soziologisch gedacht ist, der findet bei der modernen Hirnforschung den Hinweis, das Erinnern ein dynamischer Prozess ist, bei dem unter Rückgriff auf ein in der Vergangenheit etabliertes Reizmuster, eine Anforderung in der Gegenwart gemeistert werden kann, um in der Zukunft überleben zu können.
Es gibt also zwei grundlegende Elemente von Erinnerung:
Zum einen ist Erinnerung immer dynamisch, immer in Bewegung und veränderbar. Zum anderen verbinden sich in der Erinnerung Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Das bedeutet für eine Gesellschaft wie die unsere, die auf einem demokratischen Rechtsstaat fußt und die das Individuum samt seiner Würde ins Zentrum stellt, dass diese Errungenschaft immer wieder erfahrbar gemacht und gesichert werden muss.

Jede Generation hat diese Aufgabe aufs Neue.
Und es gibt keine Garantie, dass wir auch morgen, geschweige denn übermorgen noch in den freien und gesicherten Verhältnissen leben, die wir heute als fast selbstverständlich empfinden.
Dabei ist nicht das Vergessen allein der Hauptgegner der Erinnerung.

Vergessen kann unter bestimmten Bedingungen sogar als Befreiung empfunden werden. Ein Beispiel: Mit Ende des 30-jährigen Krieges, im Westfälischen Frieden, schrieb man die Formel eines „ewigen Vergessens und Vergebens“ fest. Ein Wachhalten der Erinnerung an die vielen Gräuel hätte das Risiko eines erneuten Krieges erhöht – so die Einsicht damals.

Und auch der Holocaust selbst geriet unmittelbar mit Ende des Zweiten Weltkriegs in Vergessenheit, bzw. man vergaß ihn nicht selten aktiv. Die Deutschen fanden sich in einem zerstörten Land wieder, waren geteilt und besetzt, hatten viele Tote zu beklagen und wollten ihren Blick nur nach vorne richten und die großen Gräuel und Verbrechen ihrer eigenen Vergangenheit ausblenden.

Auch ihre ehemaligen Gegner sahen bald davon ab, das deutsche Volk unter Generalverdacht zu stellen. Es gab die Kriegsverbrecherprozesse von Nürnberg, aber im Angesicht des heraufziehenden Kalten Krieges half das Vergessen über die jüngste Vergangenheit dabei, die beiden Deutschland wieder in die westlichen und östlichen Bündnisse zu integrieren. Vergessen war damals so etwas wie deutsche Staatsräson.

Der Bruch setzte erst mit der Generation der Nachgeborenen, der Kinder der Kriegsgeneration ein. Sensibilisiert durch Institutionen wie die Frankfurter Schule oder umtriebige Einzelkämpfer wie den Staatsanwalt Fritz Bauer, bekam die Mauer des Schweigens in den 1960er Jahren erste Risse. Schweigen war nicht länger ein Mittel des Neuanfangs, sondern wurde zu einer Art zweiten Schuld.

Die Forderung nach einem Erinnern im Rahmen von Wahrheit und Reue wurde zur ethischen Pflicht.
Der zweite Schub des Umdenkens fand in den 1980er Jahren statt. Die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes aber auch die erstmalige Ausstrahlung der mehrteiligen Fernsehserie „Holocaust“ rüttelten immer weitere Teile der Gesellschaft auf.

Mehr und mehr rückten der Holocaust und die Verantwortung der Deutschen in den Fokus. In dieser Zeit entstanden eine ganze Reihe von Museen, Ausstellungen und Denkmälern. Triebkraft hierbei war vor allem die Zivilgesellschaft. Sie erkannte die historische Verantwortung, die ihr aus der Schuld der Elterngeneration erwuchs.
Ein Prozess, der nach der Wiedervereinigung schließlich auf der Ebene des Staates angekommen war. Ihren vorläufigen Höhepunkt fand diese Entwicklung in der Errichtung des Holocaustdenkmals in Berlin und in der Bestimmung des 27. Januar als Holocaustgedenktag – beides im Jahre 2005.

Man könnte also davon sprechen, dass die deutsche Erinnerungskultur in einem Rhythmus von 20 Jahren kontinuierlich zugenommen hat.
Eine Erfolgsgeschichte also – wären da nicht die beiden Erkenntnisse, wie sie dem Erinnern zu eigen sind und die wir bereits benannt haben: Erinnern ist dynamisch und Erinnern muss Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbinden.

Ein kurzer Blick in unsere Runde verrät, dass mittlerweile die vierte und fünfte Generation herangewachsen ist und die historisch kurze Ära der Zeitzeugen sehr bald hinter uns liegen wird.

Wir befinden uns also in einer Art demographischer und damit kultureller Umbruchsphase. Und nach der erfolgreichen Institutionalisierung des Gedenkens stellt sich die Frage nach der weiteren Entwicklungsfähigkeit der stets dynamischen, veränderbaren Erinnerungskultur.

Die Sorge vor einem zunehmenden Wunsch nach Revanchismus, also nach dem Wunsch, das Erinnern an den Holocaust wieder ins Vergessen zu schieben ist dabei ebenso eine Herausforderung, wie die mehr als berechtigte Frage der nachwachsenden Generationen: Was hat das alles noch mit mir zu tun?
Es besteht nämlich auch eine nicht zu unterschätzende Gefahr darin, dass ein in reiner Mahnung und Inszenierung erstarrtes Erinnerungspathos seinen Bezug zur Gegenwart und Zukunft verliert und damit innerlich vertrocknet. Daher stellt sich heute die Frage, wie der Prozess des Erinnerns fortgeführt werden kann.

Dazu zwei Ansätze, die sowohl eine theoretische als auch eine konkrete Antwort umreißen möchten:
In den 1980er Jahren fand noch ein weiteres Ereignis statt, das in seinen Auswirkungen einen freien und offenen Blick auf eine mögliche Zukunftsperspektive erschwert hat: der sogenannte Historikerstreit.
Dabei ging es, ausgelöst von Ernst Nolte, um die Frage, ob und inwieweit man die Verbrechen des Dritten Reiches, vor allem den Holocaust, mit den Verbrechen des Stalinismus vergleichen kann und darf.

Denn während das Dritte Reich und vor allem der Holocaust zum zentralen Bezugspunkt für die deutsche und westliche Geschichte geworden sind, bildet die Erfahrung von Stalinismus und der kommunistischen Diktatur im Osten Europas einen zweiten Erfahrungshorizont, dessen Größe und Tiefe erst in den letzten Jahren für den Westen ersichtlich wurden.
Was also tun? Wie die Erfahrungen von Holocaust und Stalinismus in Bezug setzen? Wie beiden einen angemessenen Rahmen in der Erinnerungskultur schaffen?
Hierbei hilft eine Formel, die der Historiker Bernd Faulenbach entwickelt hat und die aus zwei Prämissen besteht:
1) Die Erinnerung an den Stalinismus darf die Erinnerung an den Holocaust nicht relativieren.
2) Die Erinnerung an den Holocaust darf die Erinnerung an den Stalinismus nicht trivialisieren.
Auf dieser Grundlage tut sich meines Erachtens ein Feld auf, das zur großen Aufgabe aber auch zur großen Chance für die Fortentwicklung der Erinnerungskultur wird: das sogenannte dialogische Erinnern.
Ein Erinnern, in dem verschiedene Erfahrungen und Erinnerungen miteinander in Beziehung gebracht und füreinander ersichtlich und fruchtbar gemacht werden.

Das mag im ersten Moment noch sehr theoretisch klingen, aber wenn man sich bewusst macht, dass in Europa verschiedene nationale Erinnerungsstränge durch die miteinander durchlebte Vergangenheit untrennbar verbunden sind und dass zugleich die europäische Einigung uns heute Chancen für Dialog und Zusammenarbeit auf allen Ebenen ermöglicht, dann könnte hierin eine weltweit einmalige Chance bestehen: nämlich ein kompatibles Geschichtsbild zu entwerfen, das die Anerkennung von Verantwortung füreinander in den Vordergrund stellt, das die gemeinsame Geschichte wahrnimmt und für eine fruchtbare Zusammenarbeit weiterentwickelt.
„Ein geteiltes europäisches Wissen über uns selbst als Täter und Opfer zugleich“, wie der ungarische Schriftsteller Peter Esterházy es beschreibt.

Diese Aufgabe könnte der Wurf für die kommenden 20 Jahre sein und unser Umgang mit dem Holocaust könnte dabei als Brücke hinüber in andere historische Traumata dienen, ohne ihn aus seiner Singularität zu lösen, ohne ihn zu relativieren.
Ich möchte Euch, liebe Schülerinnen und Schüler, also gerne sagen: Weitet euren Blick, schaut zu unseren europäischen Nachbarn und tretet miteinander in einen Dialog, in dem gegenseitiges Wissen, Verstehen und Verantwortungsgefühl für die Vergangenheit und damit zugleich für die Gegenwart und Zukunft wächst.
Meine Damen und Herren, zu Beginn meiner Rede sagte ich, dass ich drei Gründe habe, diese Rede zu halten. Einer fehlt also noch.

Es ist die Erfahrung, die ich im Rahmen des Projektes zur Reichspogromnacht im letzten Jahr gemacht habe. Da haben bekanntlich sieben Schulen, da haben die hier anwesenden Schülerinnen und Schüler, sich Gedanken gemacht, welche Lehren sie heute aus den Ereignissen vor 80 Jahren ziehen und welche Konsequenz, welche Botschaft, sie darauf aufbauend den Menschen in 50 Jahren zurufen wollen.
Das Engagement, die Ernsthaftigkeit und die Tiefe dieser Auseinandersetzung bei den Schülern haben mich nachhaltig beeindruckt.
Und hier findet sich die zweite Antwort auf die Frage: Wie umgehen mit der aktuellen Situation des Erinnerns? Handeln!
Nicht nur gedenken, sondern nachdenken und weiterdenken.
Konsequenzen ableiten und aktiv werden. Verantwortung erkennen und annehmen.
Das ist es, was in aller erster Linie Erinnerung lebendig hält, was sie fortführt und neu entwickelt. Darin möchte ich Euch ausdrücklich bestärken!
Und so dankbar ich für Ihrer aller Aufmerksamkeit bin, um so viel mehr bitte ich Sie nun um die Aufmerksamkeit für die Schülerinnen und Schüler, die hier heute Abend absolut verdient unsere Preisträger sind.

Zum Artikel Heute von gestern für morgen

Quellen und Grundlagen:
1) Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München 2016.
2) Aleida Assmann/Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit
deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999.
3) Bernd Faulenbach: Probleme des Umgangs mit der Vergangenheit im vereinten Deutschland. Zur
Gegenwartsbedeutung der jüngsten Geschichte. Köln 1993.
4) Margit Fröhlich/Ulrike Jureit/Christian Schneider (Hg.): Das Unbehagen an der Erinnerung –
Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust. Frankfurt am Main 2012.
5) Ralph Giordano: Die zweite Schuld: Oder von der Last ein Deutscher zu sein. Köln 2000.
6) Christian Meier: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. München 2010.


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