Start Magazin Festival Eine „Berlinale“ der heißen Eisen

Eine „Berlinale“ der heißen Eisen

Wer holt die Kohlen aus dem Feuer oder wirft sie gar hinein?
Einige von der Berlinale inspirierte Programmvorschläge für das Kuba-Kino
 von den HERZOG Berlinale-Korrespondenten Peer Kling und Elisabeth Niggemann


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Die Körperhaltung steht für „no future“. Tom Mercier als Yoav in „Synonymes“ unter der Regie von Nadav Lapid © Guy Ferrandis / SBS Films
Die Körperhaltung steht für „no future“. Tom Mercier als Yoav in „Synonymes“ unter der Regie von Nadav Lapid © Guy Ferrandis / SBS Films
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„Jeder Jeck ist anders“

auch nach Karneval
Das kennt Ihr auch, oder? Jemand schwärmt von einem Film, ihr schaut ihn daraufhin an und seid enttäuscht. Diagnose: Ihr hattet eine zu hohe Erwartungshaltung. Die Geschmäcker sind nun mal verschieden. Während der Berlinale gibt es immer eine Hitliste bekannter Filmkritiker/innen. Aber auch da kommt es vor, dass die oder der nur einen Punkt gibt, andere dagegen fünf. Aber keine Angst, wir schicken Euch nicht ins Messer. Mal so gefragt: Welchen Film hielt denn die internationale Jury mit Juliette Binoche an der Spitze für den besten? Sandra Hüller, beliebt für ihre Rolle in „Toni Erdmann“, hat auch mitentschieden. Dazu muss man wissen: Hier stehen überhaupt nur die Beiträge aus dem Wettbewerb zur Auswahl. Das waren dieses Jahr zwei Dokumentar- und 21 Spielfilme. Bevor die Jury antritt, wird also bereits ordentlich gesiebt. Pro Berlinale kommen ja über 400 Filme zur Aufführung und eingereicht werden noch weit mehr. Es werden auch Filme gänzlich abgelehnt. Es überhaupt in den Wettbewerb zu schaffen, ist schon eine Auszeichnung. Aber auch hier können nicht alle gezeigten Filme gekürt werden, denn einige laufen aus formellen Gründen außer Konkurrenz. Macht dieses Jahr minus sechs, bleiben also sechzehn Filme übrig.

Gold

„The winner is“: Der Goldene Bär für den besten Film, der Hauptpreis der Berlinale also, geht an die Produzenten von „Synonymes“ unter der Regie von Nadav Lapid. „Synonymes“ ist der fünfte Spielfilm des 1975 in Tel Aviv geborenen Regisseurs. Yoav (Tom Mercier), die Hauptfigur des Films ist uneins mit der Politik seines Heimatlandes Israel und versucht einen Neustart in Paris. Ein gefühltes Fünftel der 123 Film-Minuten ist er nackt und bloß. Zu Beginn des, sagen wir ´mal Dramas, ist er gerade aus Israel in Paris eingeflogen, for good, wie die Amerikaner sagen würden, also für immer. Eine vollkommen leere Wohnung ist sein erstes Quartier. Als er aus der Dusche kommt, ist alles weg, auch seine Kleidung. Kein guter Start. Später verdingt er sich als Model, auch wieder nackt und bloß und nimmt eine Reihe von entwürdigenden Posen ein. Die Fortsetzung des Elends? Worum geht es hier denn eigentlich? Hören wir, was der Regisseur nach der Filmvorführung in freier Übersetzung gesagt hat. „Als ich vor fast 20 Jahren meinen dreieinhalbjährigen Militärdienst in Israel beendet habe, bin ich zurück nach Tel Aviv, wo ich aufgewachsen bin und habe Philosophie studiert. Nach einem Jahr folgte ich meiner inneren Stimme. Ich hatte das Bedürfnis zu fliehen und niemals zurückzukommen. Ich empfand die politische Situation in meinem Land als inakzeptabel und war nicht länger bereit zu gehorchen und mich mit diesem Staatsprogramm zu identifizieren. Ich bedauere, dass die Geschichte meines Landes eine Phase durchläuft, die von großer Feindseligkeit und Brutalität geprägt ist. Als ich am Flughafen Charles de Gaulle ankam, waren meine Zukunftspläne völlig offen, aber ich hatte den klaren Wunsch, in Paris zu leben und eines Tages auf dem Friedhof Père Lachaise begraben zu werden.“ Stellvertretend geht die Filmfigur Yoav soweit, dass sie nicht mehr hebräisch denken und sprechen möchte, weil damit zu viele schlechte Erinnerung einhergehen. Beim „Random Walk“ durch Paris hält er meist ein Büchlein in den Händen und wiederholt, einem Repetiergewehr ähnlich, Synonyme der französischen Sprache. Daher der Titel. Der Schauspieler Tom Mercier studierte am Yoram Levinstein Acting Studio in Tel Aviv. Die Hauptrolle, die er für „Synonyms“ im wahrsten Sinne des Wortes VERKÖRPERT, ist sein Filmdebut. Und dann gleich GOLD! Glückwunsch, besser kann es nicht laufen. Im wirklichen Leben hat auch er sich wie seine Filmfigur gegen Israel und für Paris entschieden. Dagegen ist der Regisseur Nadav Lapid bereits vor vielen Jahren wieder heimgekehrt und setzt sich mit den Geschicken seines Landes im Brennpunkt selbst auseinander. Wie wir den Film fanden? Wir haben ihn mit Interesse geschaut und bewundern vor allem den Mut und die Entschlusskraft wie sich ein Insider mit den Problemen seines Landes Israel auseinandersetzt. Die Preise der Berlinale werden traditionsgemäß nicht nur aber auch nach politischen Gesichtspunkten verliehen. Um mitreden zu können, macht es Sinn, den Film einmal gesehen zu haben. Ein Erlebnis, an das wir bis an unser Lebensende denken werden, ist es nicht.



Eine mit Silber belohnte „Ozon Therapie“

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für oder gegen die Katholische Kirche in Frankreich
. Sein letzter Film „Frantz“ hat uns tief berührt und bewegt. François Ozons eigene Worte zu „Frantz“ sind bei Wikipedia elektronisch in Stein gemeißelt: „Ich wollte davon erzählen, wie Lügen und Geheimnisse in dramatischen Zeiten wie des Krieges und der Krise den Menschen beim Überleben helfen können. Die Lüge ist eine Metapher für unser Bedürfnis und unsere Sehnsucht nach Fiktion – und daher auch nach Filmen.“ In gewisser Weise passen diese Worte wie die Faust auf´s Auge auch auf seinen neuesten Film. Es geht um Verdrängung, um das Nicht-wahr-haben-wollen und um Vertuschung. Krieg mit der katholischen Kirche. Auf Fehltritte folgt eine Austrittswelle wie nie zuvor. 
Mit dem Silbernen Berliner Bären für „Grâce à Dieu“ („Gelobt sei Gott“) belohnt der große Preis der Jury die filmische Auseinandersetzung von Regisseur François Ozon um den während der Berlinale noch in der Schwebe befindlichen Krieg, ehm, Prozess im Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch in mehr als 70 Fällen an minderjährigen Schutz befohlenen Jungen innerhalb der Katholischen Kirche Frankreichs. „Eigentlich wollte ich einen Dokumentarfilm drehen,“ sagt François Ozon in Berlin, „… aber dann …“ sinngemäß: „…haben wir bemerkt, dass es für die Opfer unerträglich heftig würde.“ Hauptschauplatz ist Lyon, aber da dort Politik und Kirche eng miteinander verwoben sind, wurden die Drehs prekärer Szenen lieber gleich an neutrale Orte verlegt, statt zu versuchen, in Lyon die Drehgenehmigungen einzuholen. Außerdem drängte die Zeit, denn gleich nach der Berlinale, Anfang März sollte das Urteil gesprochen werden. Der Erzbischof von Lyon, Kardinal Philippe Barbarin (68) und sechs weitere Angeklagte stehen in Lyon vor Gericht, wegen Nichtanzeige also wegen unterlassener Hilfeleistung.

Das reale Leben überholt den Film

Inzwischen hat das Strafgericht von Lyon ihn schuldig gesprochen, den sexuellen Missbrauch an einem Minderjährigen durch einen Priester seiner Diözese nicht angezeigt zu haben. Barbarin wurde inzwischen zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. „Die Motivation des Gerichts überzeugt mich nicht, deshalb werden wir diese Entscheidung mit allen rechtlichen Mitteln anfechten“, sagte Jean-Felix Luciani, der Anwalt des Kardinals. Luciani erwähnte auch den Mediendruck „durch Dokumentarfilme, und vor allem einen Film“ (gemeint ist natürlich genau der hier besprochene), in dem der Missbrauch durch Pater Preynat und die Vorwürfe gegen den Kardinal thematisiert werden. Barbarin selbst betonte: „Ich weiß nicht, wofür ich schuldig gesprochen bin.“ Andererseits hat Kardinal Barbarin angekündigt, dass er seinen Rücktritt bei Papst Franziskus einreichen werde.

Opfertreffen im Film „Grâce à Dieu“ mit den Darstellern: Denis Ménochet, Eric Caravaca, Swann Arlaud, Melvil Poupaud. Regie: François Ozon © Jean-Claude Moireau
Opfertreffen im Film „Grâce à Dieu“ mit den Darstellern: Denis Ménochet, Eric Caravaca, Swann Arlaud, Melvil Poupaud. Regie: François Ozon © Jean-Claude Moireau

Zurück zum Film

Die Übergriffe durch Pater Bernard Preynat (Darsteller: Bernard Verley) fanden von 1986 bis 1991 statt. Der Pädophile, eigentlich sollte es heißen, der Kinderseelen-Zerstörer, war den Vorgesetzten als solcher bekannt. Sie stoppten ihn aber nicht wirksam. Immer wieder ist von Verjährung die Rede, „Grâce à Dieu (Gott sei Dank)“ bedankt sich der damalige Vorgesetzte Kardinal Barbarin, heute (noch) Erzbischof von Lyon öffentlich beim lieben Gott in einer Pressekonferenz. Gott dafür zu danken, dass die Vergehen nicht mehr geahndet werden können, klingt infam und blasphemisch. „Grâce à Dieu“ wurde zum ironisch sarkastischen Film-Titel, für den auch „Das Schweigen“ gepasst hätte. Der ist aber längst auf anderer Ebene vergeben und hat bereits den Stempel bedeutungsschwanger. Barbarin erregte Aufsehen, als er 1998 das Zölibat in Frage stellte. Das klang fortschrittlich. Reaktionär dagegen 2012 seine Abwehr-Haltung im Hinblick auf die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Als mögliche Folgen nannte er die Aufhebung des Verbots von Polygamie oder Inzest. Das nur als Hintergrund. Der Film ist den Opfern gewidmet, nicht Barbarin. Viele Leben wurden in jungen Jahren stark negativ beeinträchtigt oder gänzlich zerstört. Die den Film tragende Figur ist zunächst das Opfer Alexandre (als Erwachsener dargestellt von: Melvil Poupaud). Erst viele Jahre nach den Vorfällen ist er in der Lage, den Stein ins Rollen zu bringen. Die erste Hälfte des Films ist durch ihn bestimmt, dann reicht er die Fackel weiter an François (Darsteller als Erwachsener: Denis Ménochet). Der französische Anwalt und Verteidiger des Priesters Reynat, Frédéric Doyez, versuchte den für den 20. Februar geplanten Filmstart in Frankreich mit einer einstweiligen Verfügung zu untersagen. Es sei nicht hinzunehmen, dass ein Film zur Vorverurteilung seines Mandanten führe, der sich demnächst für pädophile Übergriffe in der Vergangenheit zu rechtfertigen hat. Viele Taten sind verjährt, aber ein neues Gesetz, „la Loi Schiappa“, hat die Verjährungsfristen für sexuell motivierte Straftaten verlängert.
Unsere Meinung zum Film? Das atmosphärisch dichte, spannende und sehr sehenswerte Drama trifft in die Mitte unserer Herzen und die Katholische Kirche voll auf die Zwölf. Dieser Spielfilm ist bewegend und hat tatsächlich auch etwas Wesentliches bewegt, denn „ER“ nahm den Hut. Chapeau!

„Peer, jetzt sag´ mal Du! Was hat Dir besonders gefallen?“

„Als Spielfilme mag ich interessante Geschichten mit stimmigen Dialogen und besonderen Aufnahmen, großes Kino eben. Auch wenn das Wort „pathetisch“ fiel, so haben mir doch die 141 Minuten von „Mr. Jones“ sehr imponiert und wage eine Empfehlung. Das Biopic von Agnieszka Holland (von ihr sind: „Hitlerjunge Salomon“, „Die Spur“) mit James Norton in der Titelrolle erzählt eine wahre Geschichte über den walisischen Journalisten und Politik-Berater Gareth Jones. Dieser Journalist berichtete 1933 in Großbritannien exklusiv über die NSDAP-Regierungsübernahme in Deutschland. Am 23. Februar konnte er Hitler in einer Junkers Ju 52/3m, dem damals schnellsten und modernsten Flugzeug der Welt, von Berlin nach Frankfurt am Main begleiten und interviewen. „Wenn das Flugzeug abstürzt, würde sich die ganze Geschichte Europas anders entwickeln,“ soll er gesagt haben.

James Norton als Mr. Jones. © Robert Palka / Film Produkcja

 

Der Film folgt dem so naiv gutgläubigen wie couragierten Journalisten mit dem Blick für die Zusammenhänge der Weltpolitik nach Moskau und weiter in die Ukraine. Er will über Stalins Misswirtschaft berichten, die Millionen von Hungertoten bis hin zum Kannibalismus verursacht. Das trachten die Russen zu verhindern und auch sein Landsmann und Pulitzer-Preisträger Walter Duranty (Peter Sarsgaard), der in seinen Berichten in der New York Times für Stalin Wesentliches verheimlicht oder beschönigt. Andrea Chalupas schrieb das Drehbuch und ließ dabei persönliche Überlieferungen ihres Großvaters einfließen. Ein bewegender Film, selbst voller Bewegung. Beispiele sind die in voller Fahrt voraus dahin dampfenden Lokomotiven oder Mr. Jones selbst bei der Flucht durch den Schnee oder auf dem Fahrrad hin zur Wahrheitsverkündung gegenüber dem Zeitungs-Magnaten Hearst. Leider wurde Mr. Jones nur 30 Jahre alt, erschossen in der Mongolei. Er wusste zu viel.“


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