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Alles Wahrnehmen ist eine Auswahl aus der Fülle von Möglichkeiten

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Wexxlspiele | Foto: HERZOG
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Es ist, wenn ich mich recht entsinne, in einer Geschichte von Michael Ende, dass in der Tiefe eines Säulengangs ein Riese auftaucht, eine wirklich Furcht erregende Gestalt. Doch wenn man jetzt nicht versagt und sofort die Flucht ergreift, sondern stattdessen seinen Mut zusammen nimmt und auf das Ungetüm zuschreitet, so wird dies wie in einer umgekehrten Perspektive mit jedem Schritt kleiner. Wir produzieren Affekte, die geringer werden und endlich auch verschwinden können, wenn wir darauf zu gehen. Kann, muss aber nicht.

Vergleichbares, nur mit umgekehrten Vorzeichen, erlebte ich in einem Provinzmuseum. Ich besuchte dort eine Sammlung von Porträt-Miniaturen. Winzige Ovale, zum Teil an einem Kettchen und mit einem darüber zu schließenden Deckel und mit akribisch gemalten Antlitzen von Menschen darauf. Menschen, deren Bild man hatte bei sich tragen wollen.

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Ich fragte mich, was beim Betrachten solcher Miniaturen passieren solle? Denn wenn sie auch virtuos gemalt waren, so gaben sie in ihrer Winzigkeit oft wenig mehr als einen Typus wieder oder gerieten in ihrem Bemühen um ein wenig Individualität in die Nähe zur Karikatur. Da musste noch Weiteres stattfinden, damit es Sinn mache, so etwas bei sich zu tragen.

Gegen Ende des dritten Raumes hatte es dann angefangen. In meiner Erinnerung tauchte eines der Gesichter auf und mit ihm der Wunsch, es noch einmal zu sehen. Das kann passieren, dass die Qualität einer Arbeit nachschwingt und einem zu verstehen gibt, dass sie unter den übrigen herausragt und man sie noch nicht wirklich erfasst hat. Ich versuchte zuerst es abzuschütteln, aber das Phänomen blieb und steigerte sich zur Marotte und legte sich wie eine Folie über die anderen Porträts. Endlich kehrte ich Kopf schüttelnd um, um das Porträt noch einmal zu betrachten. Aber in welcher Vitrine hatte es gelegen? Ab sofort sah ich alle anderen Gesichter nur noch der Unterscheidung wegen an, ich hakte sie ab.

Überhaupt war das genüssliche Stöbern vorbei und wie alles Wollen, Streben und Suchen war es Arbeit und Picassos Ausspruch, dass er beim Malen eben nicht suche, sondern finde, wurde mir so noch einmal plausibel. All diese Medaillons, das war wie Muscheln am Strand, dieses sich Gleichen und diese Fülle … Nein, das war sie auch nicht. Natürlich, das Gesicht war eine Sie. Schließlich verlegte ich mich aufs Systematische und ging den ursprünglichen Weg noch einmal ab.

Als ich sie dann endlich finde, sehe ich sie doppelt. Einmal als die gemalte Miniatur, einmal als das Gesicht einer Besucherin über der Miniatur. Natürlich bin ich verwirrt, senke den Blick und ehe ich mich sammeln und die Beobachtung prüfen kann, ist die Besucherin davon. Ich sehe sie noch im grünen Kleid im nächsten Saal verschwinden.

Beim Gang durch die Gassen des Städtchens, vorgeblich um einen Mittagstisch zu finden, hoffe ich insgeheim, sie ein zweites Mal zu treffen und ich verlasse die Lokale wieder, wenn sie nicht darin ist und ihr Bild wird mir dabei im gleichen Maße größer, wie der Riese in der Geschichte immer kleiner geworden ist.

Ich bin der träumende Protagonist aus unzähligen Filmen und Romanen, ich bin Rick aus Casablanca, Werther oder Tonio Kröger. Gäbe es diese Gestalten nicht, so würde ich mir ernsthaft Sorgen um mich machen. Aber so weiß ich mich auf ungezählten Seiten, auf Celluloid und Blu-Rays gespiegelt. Das muss sogar so sein, denn auf meiner Steuerkarte steht Künstler und ich wechsele die Innen- und die Außenwelt sozusagen berufsmäßig. Die Kunst dabei ist, die Intervalle möglichst klein zu halten. Sowohl in der Innen- wie in der Außenwelt kann man sich so tief verlieren, dass man leicht nicht wieder zurück findet.

Aber wie verhalten sich Außen- und Innenwelt zueinander? Hätte ich bereits ein Bild in mir, mit dem ich das Außen vorsortiere, dann würde ich nur ganz bestimmte Personen anziehen und Freiheit und Zufall wären damit so eingeschränkt, dass es nicht mehr statthaft wäre, sie als solche zu bezeichnen.

Einige asiatische Philosophen bejahen das und gehen so weit, alles Außen als Produkt des Innen anzusehen und der Psychologe C.G. Jung schwang sich zu der Maxime auf, wer nach außen schaut, träumt, wer nach innen schaut, wacht. Die Innenwelt war für ihn das XXL, bewohnt vom kollektiven Unbewussten, von Animus und Anima, dem Schatten und anderen Erscheinungen. Kräfte, die sich wie eine Linse über den Transfer von Innen und Außen legen.

Und auch die Heisenbergsche Unschärferelation, immerhin ein Nobelpreis für Physik, meint, dass sich die Dinge im Außen durch die Art der Betrachtung verändern und einmal Welle und einmal Teilchen sind und dass alles Wahrnehmen eine Auswahl aus der Fülle von Möglichkeiten sei. Wir konstruieren Realitäten. Stimmte das, so könnte man sagen, dass wir alle Traumfabriken sind.

Und bei diesem Träumen, beim Umschalten von Außen- auf Innenwelt kann mir das winzige Medaillon tatsächlich einen Dienst leisten. Es schließt mir das XXL der inneren Bildwelt auf, Kilometer von Filmmaterial, Bibliotheken bedruckter Seiten, Speicher mit unzähligen Einsen und Nullen. Dass das Medaillon dabei kaum mehr als einen Typus abgibt, spielt keine Rolle, denn letztlich könnte ich es mir auch mit geschlossenen Augen auf die Stirn oder die Lippen drücken. Es ist ein Ritual, eine Beschwörung. Kein Ansehen, mehr eine Affirmation. Dante sah Beatrice nur ein einziges Mal. Das Medaillon aktiviert ein Potential meiner Innenwelt. Ich weiß nicht, was Spiegel und was Gespiegeltes ist.

Natürlich gibt es Zeitgeist, Moden. In dem Maße, wie sie mich überlagern und ich mich anpasse, werde ich dieses innere Bild nicht zu fassen bekommen. Das geht zu Lasten der Individualität. Ich bin dann nicht mehr als ein Typus, gar eine Karikatur, nicht mehr als der Ausdruck eines historischen Abschnitts, so wie eine geologische Formation. Ein Abdruck in Jura, Trias oder Kreide, Teil einer ununterscheidbaren Menge. Muscheln am Strand.

 

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Dieter Laue
Dieter ist hauptberuflich Künstler. Laue malt seine Bilder nicht, sondern er komponiert und improvisiert wie ein Jazzmusiker. Sein freier Gedankenfluss bring die Leser an die verschiedensten Orte der Kunstgeschichte(n). Er lässt Bilder entstehen, wo vorher keine waren. In Bild und Schrift.

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