Start featured Temperament

Temperament

…jeder hat es (manche verwechseln es allerdings mit Charakter oder Mentalität) und verhält sich entsprechend – die einen verhalten, andere eher unverhältnismäßig.

103
0
TEILEN
Abbildung: Adobe Stock
- Anzeige -

Wo kommt dieser gerne schon mal temperamentvoll verwendete Begriff her? Mal wieder aus dem Lateinischen: „Richtig mischen“, sagt der große Brockhaus. „Maßhalten“, sagt der kleine Stowasser.

Mhmm. Was soll da richtig gemischt werden? Mit was sollte man maßhalten?

- Anzeige -

Also noch mal 2000 Jahre zurück. Da gab es die seltsame auf Hippokrates zurückgeführte und bis ins 17. Jahrhundert aufrechterhaltene Theorie, dass 4 Körpersäfte (warum nur 4? ich habe mehr…) unseren Typus bestimmen. Bei wem das Blut (sanguis) vorherrschte, der war Sanguiniker. Der mit überwiegendem „Schleim“ (phlegma – ich bin bis heute nicht dahinter gekommen, welcher Schleim damit gemeint ist) wurde als Phlegmatiker bezeichnet. Der mit schwarzer Galle (melas cholos) Versehene – ein Melancholiker. Und woher auch immer das hergenommen wurde, kam als Letztes noch die weiße / gelbe Galle (cholos) hinzu: der Choleriker.
Das also waren (und sind?) die 4 Temperamente: der heitere Oberflächliche, der Lahmar***, der Depressive und das HB-Männchen – für die, die das nicht mehr kennen: der aufbrausende DurchdieDeckeGeher. Diese 4 saftigen Veranlagungen richtig zu mischen, mit den Überschüssen maßzuhalten – das wäre dann wohl im eigentlichen und auch persönlichen Sinne das wünschenswerte Temperament. Da müsste man allerdings nicht nur ein entsprechend gut gemischtes haben, sondern auch über genügend Verstand und Vernunft verfügen, diese Mischung gegebenenfalls herzustellen.

Es bleibt die Verwunderung, wie damalige Wissenschaftler (man darf sie dank der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel durchaus so nennen) und Philosophen auf Derartiges kamen. Ich kann diese Frage ebenso wenig beantworten, wie mir die Hintergründe heutiger Temperamentsausbrüche verschlossen bleiben. Wobei ich nicht meine und die meines persönlichen Umfelds meine (die sind mir meist erklärbar), sondern die ständig im Internet geposteten Äußerungen eigentlich völlig Unbeteiligter, die sich plötzlich betroffen fühlen. Ohne irgendwelche Hintergründe zu kennen, geschweige denn zu hinterfragen, sendet der Sanguiniker Likes, der Melancholiker Dislikes, und der Choleriker schimpft über beide. Dem Phlegmatiker geht der ganze pseudoaufgeregte Kram meist sowieso am Allerwertesten vorbei. Da die Temperamente aber nicht so klar zu Tage treten, sondern meist auch noch seltsam bis schlecht gemischt sind, findet entsprechend ein wüstes Durcheinander statt – ein Post ergibt das andere – und von Maßhalten (siehe oben) kann kein Lesen, auch keine Rede mehr sein.

Was soll das? Befinden wir uns mittlerweile in einer gesellschaftlichen Maschinerie / Technik, die es uns ermöglicht, unsere oft durch Tatsachen nicht zu begründenden Frustrationen einfach rauszukotzen und / oder andererseits Sinnlosigkeiten selbst zu äußern, einfach weiterzuleiten und somit sogar zu hypen? Die Temperamente suchen (wenn sie es denn jemals taten) keinen Ausgleich mehr, sondern scheinen eine lustvoll-perverse Be(s)tätigung in der Konfrontation zu finden – und dabei doch nichts zu erreichen außer oberflächlicher und allemal kurzfristiger Selbstbefriedigung. Selbst gelegentlicher, sogar begründeter Widerspruch wird dankbar zur Unkenntnis genommen: Auch den Idioten habe ich es aber mal gesagt / gezeigt!

Da waren die Stammtischgespräche (zumindest die, die ich erleben musste) um einiges ausgleichender: Is ja gut, Karl, nu komm mal wieder runter und bestell‘ noch ‘ne Runde!

Schöne Idee, solchen im Internet Aufgeregten per Kommarunterpunktde ein Smoothie mit Kommentar zu schicken: Ey, Alter, wie schräg bist du denn drauf? Dir geht‘s zu gut, sonst hättest du keine Zeit, solchen Blödsinn zu verzapfen… Schalte dein Smartphone ab und deinen Restverstand wieder ein! Get smooth!

Ich mag diese den meisten sowieso unverständlichen Amerikanismen eigentlich nicht, aber irgendwie gehören sie wohl mittlerweile auf jedes zweite T-Shirt, so wie man sich fernöstliche Schriftzeichen auf den Leib tätowieren lässt. Da ich diese nicht lesen kann, denke ich manchmal: Vielleicht steht da nur „heute Sonderangebot bei Konfuzius!“ – aber ich schweife ab. Zurück zu Kommarunter.
Schöne Idee… Doch wahrscheinlich würde der so Beschenkte dem „Lieferhelden“, der womöglich auch noch „undeutsch“ aussieht, zumindest unflätige Aussagen an den Kopf werfen, die dieser eventuell zwar nicht versteht, aber durchaus begreift. Entsprechende Temperamentsausbrüche sind global und international zutreffend interpretierbar.
Ein kleines Übel, das größeren Vorschub leistet.

Ich habe noch die 68er erlebt, wenn auch nicht verstanden. Da hat man gegen den Schah und für Mao demonstriert – beides Drecksäcke…

Jedoch: Was ist derzeit los, dass Demonstrationen ihre prinzipielle Berechtigung ad absurdum führen, indem sie nicht mehr ihre Ursache bezeigen, sondern in einer gewollten Aggression gerade denen schaden, in deren Namen sie angeblich schreien? Das betrifft nicht nur die ausartenden propalästinensischen „Kundgebungen“, sondern alle, die Argumente und Auseinandersetzung durch Hetze, Hass und Häme ersetzen, auch wenn sie diese als „notwendige Aufrüttelungspolemik“ zu tarnen versuchen. Sie und Die wissen schon, wer gemeint ist.

Da muss ich mein einigermaßen gut gemischtes und zur Maßhaltung neigendes Temperament mühsam per Verstand zügeln, um diesen Schwachköpfen nur verbal / schriftlich wie gerade jetzt auf den dumpfen Schädel zu hauen… Wohlwissend, dass die Leere keine Lehre annimmt, denn die ist ja bereits mit hohler Überzeugtheit gefüllt. Und für diese groben Klötze ist mein Keil leider zu fein. Lesen und Verstehen gehören nicht zu deren Kompetenzen. Da gibt man sich lieber seinem durch Gleichgeartete bestätigten Temperament hin.
Unsere Gesellschaft durchmischt sich wie historisch belegbar schon seit Jahrhunderten. Mäßigung im gegenseitigen Umgang miteinander nimmt allerdings mal wieder ab. Das Temperament menschengemachter Geschichte zei(ti)gt sich auf hohem Niveau gerade auf fast allen Seiten und global unschön. Schade – weil nur schädigend.


§ 1 Der Kommentar entspricht im Printprodukt dem Leserbrief. Erwartet wird, dass die Schreiber von Kommentaren diese mit ihren Klarnamen unterzeichnen.
§ 2 Ein Recht auf Veröffentlichung besteht nicht.
§ 3 Eine Veröffentlichung wird verweigert, wenn der Schreiber nicht zu identifizieren ist und sich aus der Veröffentlichung des Kommentares aus den §§< 824 BGB (Kreditgefährdung) und 186 StGB (üble Nachrede) ergibt.

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here