Ich sitze in meinem Wohnzimmer, der Kamin lodert, möglicherweise zum letzten Mal in dieser Heizsaison, das durch Treuepunkte im „Real“ erworbene Rotweinglas verlangt unnachgiebig nach einer weiteren Füllung mit dem im Barriquefass gereiftem Rebensaft, im Fernseher vergibt Mario Gomez in der 88. Minute des Champion-League Halbfinals Real-Madrid – Bayern München eine hundertprozentige Chance zum (später nicht mehr benötigten) 2:2 und beim Anblick von eben diesem Mario Gomez stellt sich mir die Frage, ob sein Friseur seine Haarpracht in schwarz gefärbtem Beton gegossen hat?!? 88 Minuten laufen, schwitzen, köpfen, fallen, umarmen…
Jülich – München – Madrid
Die Frisur sitzt!
Aber warum?? Auch egal, denn meine rotweingetränkten Gedanken versetzen mich jetzt zurück in meine Kindheit – zu meinen ersten Erfahrungen mit dem Menschen, dem man (hoffentlich) öfters begegnet als seinem Hausarzt, seinem Fahrlehrer oder der Tante in Amerika, „meinem“ Friseur.
Mein Friseur war tatsächlich Friseur, er war kein Haircutter, kein Hairkiller, kein Hair-Stylist, kein Haardesigner und auch kein Edward (der mit den Scherenhänden), nein – mein Friseur war einfach nur Friseur. Sein Salon war nach alter rheinisch-katholischer Tradition streng aufgeteilt in den Bereich für Frauen, die in Einzelkabinen bedient wurden und hinten durch, im Carrée, dem Bereich für Männer und Jungen. An der Wand entlang stand eine Bank, auf der man wartete, denn Termine gab es noch nicht, die Reihenfolge ergab sich zwangsläufig aus der Position auf der Bank.
Gegenüber ein großer, rechteckiger Spiegel, davor der Stuhl der Wahrheit. Eigentlich war der Spiegel nutzlos, denn für Eitelkeiten war kein Platz in den Köpfen der Kundschaft meines Friseurs, man schaute mit leerem Blick auf den Spiegel, die Männer genossen den Moment weder etwas sagen noch etwas Aktives machen zu müssen, einfach warten, bis man dran war. Absolute Ruhe, denn bis auf die Frage: Wie immer? und die Antwort Ja! wurde nicht geredet. Dafür wurde um so mehr geraucht. „Mein Friseur“ gehörte zu den Menschen, die während der Arbeit die glühende Zigarette so lange im Mundwinkel beließen, bis sich die Asche zu einer Art ET-Finger bedenklich über den Köpfen der Kunden krümmte ohne tatsächlich irgendwann herunter zu fallen. Eine Fähigkeit, mit der man heutzutage sicherlich in den vorderen Rängen einer jeden Talentshow landen würde.
An der Kasse wurde dann doch ab und zu kurz geplauscht. Wat kriste? 8 Mark! Tu misch noch en Päckchen dobej! Ach, is dat Johr widder röm?, hahaha, jut, dann sinn et zehn.
Als Achtjährigem blieb mir der Sinn dieses Plauschs natürlich im Ungewissen. Heute, als aufgeklärter Mann mittleren Alters weiß ich natürlich, dass die Friseure bereits in den 20er Jahren eine Art Handelsmonopol auf ein Kautschukprodukt hatten, welches den Kunden in die Lage versetzte, die Anzahl der hungrigen Münder am eigenen oder fremden Tisch nicht weiter steigen zu lassen.
Bei strenger Betrachtung war mein Friseur vielleicht doch mehr als nur Friseur. Er war ja auch so eine Art Therapeut – Kraft durch die nonverbale „wir treffen uns beim Friseur und müssen nix tun außer ja sagen“ Therapie. Und bei ganz strenger Betrachtung konnte man zum Schluss kommen, dass mein Friseur sogar ärztlichen Beistand leistete, weil er mittelbar an der Familienplanung seiner Kunden beteiligt war. In diesem Zusammenhang war er auf jeden Fall „Geheimnisträger“ so wie der Mediziner, der ans Arztgeheimnis gebunden ist.
Offensichtlich ein wenig weggedöst werde ich durch ein lautstarkes „Toooooooor“ aus meinen Träumen gerissen. Bastian Schweinsteiger hat gerade den entscheidenden Elfer im Kasten von Real Madrid versenkt und steht mit nacktem Oberkörper vor der Fankurve der Bayern. Mario Gomez läuft euphorisch auf ihn zu – die Frisur sitzt noch immer – sensationell!
Mein Entschluss ist gefasst: Ich werde zum Friseur gehen, denn bei einem Blick in meinen Badezimmerspiegel fällt mir auf, dass meine Haarpracht zwar prächtig gewachsen ist, aber den Begriff der „Frisur“ mangels erkennbarer Konturen nicht verdient hat.
Da sich „mein“ Friseur mittlerweile im wohlverdienten Ruhestand befindet, fällt meine Wahl auf einen Salon im Innenstadtbereich.
Ich trete ein und suche vergebens nach der Bank für die männlichen Kunden. Ganz eindeutig hat die „Ökumene“ im Friseurhandwerk Einzug gehalten, denn Männer und Frauen sitzen auf hochdesignten Ledersesseln einträchtig nebeneinander.
Der Chef kommt auf mich zu, begrüßt mich mit Handschlag und bietet mir umgehend ein Glas Prosecco an. (Anm. Prosecco ist die italienische Variante des dt. Schaumweins „Keller Geister“) Wenige Augenblicke später schmiegt sich mein Haupt in ein Waschbecken, wohltemperiertes Wasser sparkelt über meinen Kopf und eine junge, hübsche, dralle Profihaarwäscherin namens Monika bearbeitet gefühlvoll mit ihren Fingerkuppen meine Mähne, so dass ich mich zusammenreißen muss, um nicht von postalkoholischen Glücksgefühlen übermannt zu werden.
Nachdem Monika mit mir fertig ist, wickelt sie kunstvoll ein Handtuch zu einem Turban um meinen Schädel und begleitet mich zu meinem Platz. Ich überleg kurz, ob ich zur allgemeinen Aufheiterung vielleicht ein kleines Lied anstimmen soll. „Schönes Haar ist ihm gegeben, lass es kleben, mit Quark“ von Otto oder, ob meiner lustigen Kopfbedeckung, „Hey Mister Taliban, show me your banana…..“ Doch ich verwerfe diesen Gedanken, denn schon steht Katja, eine Meisterin Ihres Fachs, neben mir und fragt:
„Wo sollen wir denn schneiden?“
Mich trifft der Schlag. Über den Spiegel werfe ich ihr hilfesuchend einen Blick zu, meine Augen werden so groß, dass ich bei der nächsten Moorhuhnjagdversion als Zeichenvorlage durchgehen könnte und ein wenig kleinlaut entgegne ich ihr: „Am besten oben!!!“
Allgemeines Gelächter! Meine Stuhlnachbarin, Frau Ofenrohr, eine ca. 75 Jahre alte Stammkundin aus der Fraktion „weiß rein – lila raus“ dreht sich gönnerhaft zu mir und sagt: „Junger Mann, lassen se dat Katja ma machen, dat kann dat!“ Okay. Dann darf „dat Katja ma machen!“ Nachdem ich mit ihr lediglich kurze Details geklärt habe, wie „viel ab“ und „nicht brav“ lasse ich Katja freien Lauf. In Windeseile zieren diverse, für mein laienhaftes Auge systemlos verteilte, Klammern meinen Kopf und Katja wuselt als achtarmige indische Göttin Maha Saraswati mit Scheren, Kämmen und einem Föhn an mir herum.
In der Erwartung des Satzes „bitte jetzt mal kurz zumachen“ schließe ich die Augen. Doch solange ich auch warte, der Satz trifft nicht auf meinen Gehörgang. Stattdessen ertönt ein klares „so – fertig“. Ich blicke in den Spiegel. Die „Göttin“ steht bewaffnet mit einem runden Spiegel hinter mir und fragt: „Und? Gut so?“
Wie? Gut so! Was ich sehe ist nicht „gut“, was ich sehe ist phänomenal. Ich bin begeistert, ich liege ihr zu Füssen, nein besser nicht, ich würde in geschätzten 30 Kilo Resthaar versinken, ich bin wie von Sinnen, B und B – vom Bombenleger zum Bachelor, Katja , ich bin dir sooooo dankbar.
Auch Frau Ofenrohr lukt aus ihrer Haube hervor um mich zu begutachten. Völlig begeistert schlägt sie die Hände auf ihre Wangen, die aussehen wie das Amazonas Delta in roter Farbe und es sprudelt aus ihr heraus: „Nee Katja, dat
is ja ne janz angere Mann!“
Bevor ich mit stolzgeschwellter Brust zur Kasse gehe, bin ich noch eine Ehrenrunde durch den Salon gelaufen. An der Kasse steht der Chef. Mit einem kurzen Blick auf die in Reih und Glied an der Theke aufgebauten und mit den Namen der Mitarbeiterinnen ausstaffierten Sparferkel bemüht er sich der weltbekannten Robert Lemke Frage: „Welches Schweinderl hätten´s denn gerne?“
„Das mir eben die Haare gewaschen hat“, wäre mir fast über die Lippen gekommen, aber ich habe Benimm. Dafür, völlig unvermittelt, schnellt aus mir „Haben Sie vielleicht noch ein Päckchen für mich?“ heraus. Für wenige Sekunden ist es im Salon ganz still, wir stehen uns wie Will Kane und Frank Miller im Westernklassiker „12 Uhr mittags“ gegenüber. Ganz langsam geht sein Blick nach unten, sacht öffnet er eine Schublade und antwortet: „ Festiger, Conditioner oder Gel?“
„Hoppla“, denk ich, „im Bereich der Ehehygiene- artikel hat sich in den letzten Jahrzehnten ja einiges getan“.
„Nee doch nicht, danke!“ Ich bezahle und trete vor die Tür auf den Bürgersteig. Ich zünde mir cool eine Zigarette an und fühle mich gut. Mein neuer Friseur ist nicht einfach Friseur, nein, mein neuer Friseur ist Inhaber eines Tempels, eines Tempels der Freude, eines Tempels, in dem Männer wie Frauen mehr als glücklich gemacht werden.
Nach ein paar Schritten kreisen meine Gedanken um meinen alten Friseur. Als Achtjähriger war ich zufrieden. Immerhin. Vielleicht war mein alter Friseur doch nur Friseur. Aber da gab es ja auch noch keinen Prosecco.