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…wie ein Ei dem anderen

Ein Essay über die Individualität

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Jedes Ei ist anders | Grafik: HZG
Die Einzigartigkeit der Eier | Grafik: HZG
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Mit der Individualität oder dem grundsätzlichen Umstand, dass sich ein Mensch oder ein Gegenstand von einem anderen Menschen oder anderen Gegenstand unterscheidet, ist es so eine Sache. So wissen wir, dass zwar jeder Mensch einzigartig ist, aber selbst die großen Philosophen von der Antike bis zur Jetztzeit kapitulieren scheinbar vor der Ambivalenz der Tatsache, dass somit auch alle Menschen individuell sind. Und ist das, was alle tun, haben oder sind, dann noch individuell?

Ob wir nun einzigartig oder in unserer Einzigartigkeit doch nur genau so wie alle anderen sind, scheint vornehmlich eine Frage des persönlichen Empfindens zu sein. Der Leser sei an dieser Stelle eingeladen, diesem recht pragmatischen Pfad auf der Suche nach der Individualität zu folgen, alleine schon daher, da der Autor sich vorübergehend nicht imstande sieht, es mit Nietzsche, Schopenhauer, Fichte oder Hegel aufzunehmen. Vielleicht hängt der Grad unserer Einzigartigkeit auch von der Stärke des Wunsches ab, individuell zu sein oder zumindest so zu wirken. Ist es denn überhaupt erstrebenswert, anders zu sein als alle anderen? Scheinbar ja! „Weil Du etwas ganz Besonderes bist“, spricht der Großvater im Schaukelstuhl und überreicht seinem Enkel zur Belohnung für seine Individualität ein Werthers Echte – Karamellbonbon. Da stellt sich die Frage, ob das Kind überhaupt etwas Besonderes sein will. Den Eltern von schulpflichtigen Kindern jedenfalls offenbart sich in aller Regel ein anderes Bild. Will ein Kind oder Teenager neue Schuhe einer ganz speziellen Marke, dann sicher nicht, weil diese Schuhe von sonst niemandem getragen werden. Lädt sich eine 15-Jährige trendige Musik im Netz herunter, dann wohl kaum, weil sonst kein Schwein dieselbe Musik hört. So oder so ähnlich verhält es sich während der Präadoleszens sowie der Pubertät bei der Auswahl von Speisen, Klamotten Freizeitbeschäftigungen etc. Der junge Mensch fühlt sich offensichtlich recht wohl in der Konformität der Menge und hat nicht das geringste Verlangen, besonders oder gar ein Sonderling zu sein. Dafür gibt’s ein Wort, das im Kreise Jugendlicher oft mit einer gehörigen Portion Abschätzigkeit ausgesprochen wird. „Du Freak!“ Die Botschaft, etwas ganz Besonderes sein zu müssen, hat sich trotz „Werthers Echten“ bei den jungen Menschen nicht durchgesetzt, oder sind es etwa die wenigen Einserschüler, die unter Gleichaltrigen besondere Anerkennung bekommen? Trotz dieses nicht vorhandenen Interesses an der Individualität, hält der Autor Kinder und Jugendliche für die individuellsten Menschen überhaupt. Einfach alles kann aus diesen jungen Menschen noch werden. Egal ob Astronaut, Schauspieler, Feuerwehrmann oder Primaballerina – alles ist noch möglich. Und wer hat es in Anbetracht solch mannigfaltiger Gestaltungsmöglichkeiten nötig, sich durch einen besonders einzigartigen Schulranzen von der Masse abzuheben? Der noch so angestrengte Versuch eines 11-Jährigen, erwachsen zu wirken, lässt eher die Erwachsenenwelt alt aussehen als umgekehrt.

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Umgekehrt ist auch das Bild, das sich in Bezug auf die Individualität in der Erwachsenenwelt zeigt. Hier hat man große Lust auf Werthers Echte und setzt alles daran, sich irgendwie von der Masse, die ja despektierlich als „Mainstream“ bezeichnet wird, abzuheben. Man kauft ein teures Paar Schuhe, weil es sonst niemand hat. Den neuen Wagen kauft man, weil dieses Modell „ja nicht an jeder Ecke steht.“ Der Drang zur Individualität ist in der Welt der Adoleszenten groß und drückt sich ganz besonders im Konsumverhalten aus. Ob nun diese Einstellung eine Folge des allgegenwärtigen Werbebombardements ist, das doch so sehr auf die Individualisierung des Konsumenten durch Konsum abzielt, oder sich die Werbeindustrie den Wunsch der Werktätigen zunutze macht, vermag der Autor nicht zu beantworten.

Ballerina oder Feuerwehrmann | Grafik: HZG
Feuerwehrmann oder Ballerina | Grafik: HZG

Jedenfalls weiß der amerikanische Werbestratege seit mehr als hundert Jahren, wie er am besten sein Zeug verhökert: „Erzähle den Leuten nicht, wie gut Dein Produkt ist, sondern erzähle ihnen wie gut sie durch den Erwerb deines Produktes werden!“ Und so wird’s gemacht! In einem Spot für ein Rasierwasser wird man gar nicht mehr mit der Behauptung konfrontiert, es handele sich um ein gutes Rasierwasser. Nein, ein junger Adonis, der von hochattraktiven Damen beschnuppert wird, benutzt besagtes Rasierwasser und die gesamte Frauenwelt liegt ihm zu Füßen. Herr Schulze von nebenan hat etwas Übergewicht und nimmt Tabletten gegen zu hohen Blutdruck, verspürt plötzlich jedoch den starken Drang, sich von seinen Nachbarn abzuheben und dasselbe Aftershave wie Adonis aus der Werbung zu benutzen. Dass Adonis seine Muskelsn daher hat, weil er täglich Gewichte stemmt und nicht dank seines Rasierwassers, offenbart sich nur wenigen. Herr Schulze von nebenan kann da nicht mithalten. Das einzige, das er jeden Monat stemmt, ist die Hypothek für sein Reihenhaus. Wie erwartet, bleibt auch der Erfolg bei Frauen aus, und noch lustiger ist das Bild, wie Herr Schulze stolpert und mit dem Herrenduft des Adonis umweht, die Kellertreppe hinuntersegelt. Von Werbebotschaften lässt sich Herr Schulze, wie wir alle, selbstverständlich nicht beeinflussen – meint er.

Die Individualisierung in der Erwachsenenwelt wird folglich hauptsächlich nicht über besondere Taten, sondern über den Erwerb vermeintlich besonderer Konsumgüter betrieben und scheitert daher vollständig. Nicht den Mount Everest besteigt man, sondern man kauft sich einen „Outdoor-Pullover“ von derselben Marke, die Reinhold Messner trägt. Messner wäre sicher bei der Besteigung der Achttausender mit einem anderen Pullover gescheitert. Auch die Limo von Formel1 Weltmeister Vettel soll ja bekanntlich Flügel verleihen. So läuft’s aber: Der Typ im Anzug ist der Businessman, der Kerl im Freizeitoutfit ist der Sportliche, und alle sind sie individuell – alle. Die Möglichkeiten, Astronaut, Schauspieler, Feuerwehrmann oder Primaballerina zu werden sind längst passé, und da greift man doch gerne zum gleichen Notizbuch, das schon Hemingway benutzt hat.

Verrückt ist das: Junge Menschen legen keinen Wert darauf, individuell zu sein und sind es dadurch umso mehr. Die Erwachsenen tun alles dafür, einzigartig zu sein und sind es umso weniger. Sehr sehr verallgemeinert – versteht sich. Kann man das wirklich so behaupten? Vielleicht wären Nietzsche, Schopenhauer, Fichte und Hegel mit folgender Formel einverstanden: Du bist, was du tust und nicht, was Du kaufst. Dann klappt’s auch mit der Individualität. Und das gilt selbstverständlich für Kinder und Erwachsene gleichermaßen.

Warum gibt’s derzeit eigentlich nur noch schwarze und silberne Autos?


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