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Ja, es ist wichtig

Tatsachen geschlechtsspezifischer Diskriminierung in der (Neuro-)Wissenschaft. Ein internationales Team von Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftlern hat Belege geschlechtsspezifischer Verzerrung in ihrem Fachgebiet aufgearbeitet. Ihre Ergebnisse – zusammen mit Lösungsvorschlägen auf verschiedenen Ebenen – sind nun im European Journal of Neuroscience veröffentlicht worden. Führende Neurowissenschaftler unterstützen den Aufsatz und haben ihn unterzeichnet.

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Dr. Sarah Genon ist Gruppenleiterin am Institut für Medizin und Neurowissenschaften und Co-Vorsitzende der WiN-Repo-Initiative. Foto: Forschungszentrum Jülich / Sascha Kreklau
Dr. Sarah Genon ist Gruppenleiterin am Institut für Medizin und Neurowissenschaften und Co-Vorsitzende der WiN-Repo-Initiative. Foto: Forschungszentrum Jülich / Sascha Kreklau
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„Brauchen wir das heute noch?“ Als vor einem Jahr das „Women in Neuroscience Repository“ (WiNRepo; zur Verbesserung der Sichtbarkeit von Frauen in der Neurowissenschaft) eingerichtet wurde, stieß es bei Kollegen auf positives Feedback, aber auch auf erhebliche Zweifel. Viele schienen zu glauben, dass die Zeiten vorbei sind, in denen Frauen in der Wissenschaft unterstützt werden müssten, um Gleichberechtigung zu erlangen. Die Autoren einer Stellungnahme, die in der Zeitschrift European Journal of Neuroscience veröffentlicht wurde, sehen das jedoch anders.

„Als wir für WiNRepo geworben haben, schlug uns häufig die Meinung entgegen, dass Geschlechterverzerrungen der Vergangenheit angehören. Leider haben wir beobachtet und es selbst erlebt, dass dies nicht der Fall ist. Viele Menschen, auch Wissenschaftler, sind sich dessen einfach nicht bewusst“, sagt Dr. Sarah Genon, Co-Vorsitzende der WiNRepo-Initiative und Gruppenleiterin am Institut für Medizin und Neurowissenschaften in Jülich. Infolge des Feedbacks und ihrer persönlichen Erfahrungen entschied sich der WiNRepo-Vorstand, das Thema wissenschaftlich anzugehen. „Unser Ziel ist es, einen breiten Überblick über die geschlechtsspezifische Verzerrung in den Neurowissenschaften zu geben. Dieses Thema ist bereits aus bestimmten Blickwinkeln angesprochen worden, aber wir haben keinen Artikel gefunden, der eine Übersicht bietet.“ In ihrer Arbeit ‚Gender bias in (neuro)science: facts, consequences and solutions‘ (Geschlechtsspezifische Diskriminierung in der (Neuro-)Wissenschaft: Fakten, Konsequenzen und Lösungen) hat das Autorenteam Belege für geschlechtsspezifische Ungleichheiten in der Wissenschaft gesammelt, insbesondere in den Neurowissenschaften. „Es ist unser Ziel, der wissenschaftlichen Gemeinschaft Fakten zu liefern und die Auswirkungen auf Wissenschaft und Gesellschaft aufzuzeigen“, sagt Genon, Mitautorin des Artikels.

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Unterrepräsentation ist ein Problem

Die Unterrepräsentation stellt nicht nur ein Problem für die Gleichberechtigung der Geschlechter und Diversität als anzustrebende gesellschaftliche Werte dar, sondern auch für die Produktivität und die Vielfalt der wissenschaftlichen Forschung und damit für die Breite der dem Fachgebiet und der Gesellschaft insgesamt zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Ergebnisse. Mit Blick auf die Produktivität haben sich diversitätsgeprägte Teams hinsichtlich Innovation, Flexibilität, Problemlösung und Entscheidungsfindung als besser erwiesen als homogene Gruppen, so die Autorinnen und Autoren in ihrem Beitrag.

Bezüglich der Breite der Forschung stellen sie fest, dass „die Menschen dazu neigen, Menschen wie sich selbst zu erforschen, zum Nachteil anderer Geschlechter, Klassen und Rassen, die Teil unserer Gesellschaft sind“. Somit ist die Gesundheit von Frauen zu wenig erforscht, da Frauen in klinischen Studien seltener vertreten sind oder sogar von ihnen ausgeschlossen werden. Die Autoren fanden eine ähnliche Situation bei Neuroimaging-Studien, deren Zielgruppe häufig die Population hochgebildeter weißer Menschen waren. Da das maschinelle Lernen immer mehr an Bedeutung gewinnt, ist es wichtig zu verhindern, dass die künstliche Intelligenz die menschlichen Vorurteile übernimmt, die sich in den Daten widerspiegeln, aus denen Maschinen lernen.

Obwohl der Schwerpunkt der von Dr. Jessica Schrouff, Wissenschaftlerin des University College of London, geleiteten Diskussion in den Neurowissenschaften liegt, bezieht sie auch Daten aus anderen Wissenschaftszweigen ein.

Die Ergebnisse

Die Befunde zeigen, dass es weniger Frauen in höheren Positionen in der Wissenschaft gibt und dass ihnen in der Regel weniger gezahlt wird als ihren männlichen Kollegen, so die Autoren. Dies ist auf eine Reihe von zusammenhängenden Faktoren zurückzuführen, welche die Studie aufzeigt:

Frauen ziehen sich häufiger als Männer aus der akademischen Welt zurück, wenn sie Kinder bekommen haben oder eine Familie gründen wollen.
Aufsätze, die eine letzte Autorin haben, werden weniger oft angenommen.
Frauen erhalten eine geringere Anerkennung für ihren Beitrag.
Finanzielle Mittel werden tendenziell an Männer vergeben.
Wissenschaftlerinnen werden weniger oft zu Konferenzen und Workshops eingeladen als Männer.
Frauen haben geringere Chancen, auf der gleichen Kompetenzstufe eine unbefristete Stelle zu erhalten. Frauen neigen auch dazu, ihre wissenschaftlichen Fähigkeiten zu unterschätzen und weniger konkurrenzfähige Lebensläufe einzureichen, so die Autoren.
Frauen sind im Peer-Review-Verfahren und in Entscheidungsgremien unterrepräsentiert, was einige der oben genannten Aspekte verstärken könnte.

Foto: pixabay
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Was lässt sich ändern?

Jessica Schrouff und ihre Kollegen diskutieren eine Reihe von Möglichkeiten, das Problem auf verschiedenen Ebenen anzugehen.

Institutionen könnten sogenannte „stop-the-clock“-Richtlinien umsetzen, das heißt, Familienzeiten bei karrierebezogenen Fristen für wissenschaftliche Förderung berücksichtigen. Die Autorinnen und Autoren empfehlen auch, Vorurteilstrainings für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zur Schärfung des Bewusstseins organisieren oder doppelblinde Reviews durchführen, zum Beispiel bei Förderanträgen. Das bedeutet, dass nicht nur die antragstellende Person nichts über die Identität seiner Prüfer erfährt (wie es üblicherweise der Fall ist), sondern umgekehrt werden auch die Prüfer über die Identität der antragstellenden Person im Ungewissen gehalten. Eine Empfehlung besteht darin, Daten über die geschlechtsspezifischen Ergebnisse des derzeitigen Systems, beispielsweise das Verhältnis von der Anzahl Frauen in Entscheidungsgremien zu der Anzahl positiv beschiedener Frauen, zu sammeln und auszutauschen. Diese Daten sollen dazu dienen, neue Richtlinien zu definieren und zu bewerten.

Geschlechterquoten sind beliebte und wirksame Mittel, um wo immer erforderlich die Diversität zu erhöhen. Sie haben jedoch unter Umständen auch den unerwünschten gegenteiligen Effekt, wenn der Wert der Arbeit von Frauen infrage gestellt und ihr Erfolg eher auf ihr Geschlecht denn auf ihre akademischen Leistungen zurückgeführt wird. Diese Bedenken wurde vor allem von Wissenschaftlerinnen geäußert.

Empfehlungen auf organisatorischer Ebene, zum Beispiel bei der Organisation von Konferenzen, zielen darauf ab, die Diversität in allen Aspekten der Veranstaltung zu fördern ,und fordern ein Geschlechtergleichgewicht bei der Aufstellung aller Organisationskomitees und Gutachterpools sowie bei Symposiums- oder Workshopbeiträgen. Die Quote der Teilnehmerinnen an wissenschaftlichen Konferenzen lässt sich verbessern, indem auf Listen und in Repositorien aktiv nach Kandidatinnen gesucht wird, statt immer wieder dieselben bekannten Referenten einzuladen. Die Einrichtung einer Kinderbetreuung auf Konferenzen ist sehr wichtig, um Müttern mit kleinen Kindern die Möglichkeit einer Teilnahme geben zu können.

Schließlich ermutigen die Autoren Einzelpersonen – Frauen und Männer –, sich der eigenen und fremden Vorurteile bewusst zu werden, an Trainingsseminaren teilzunehmen und es anzusprechen, wenn sie Verhaltensweisen beobachten, die auf geschlechtsspezifischen Vorurteilen beruhen. Die Autorinnen und Autoren betonen, dass dies nicht mit Schuldzuweisungen einhergehen sollte, es sei denn, es handelt sich um ein klares Fehlverhalten oder eine bewusste Diskriminierung. „Nicht konstruktive Aussagen oder Schuldzuweisungen, ob zutreffend oder nicht, schaden nur der Diskussion“, schreiben sie in ihrem Aufsatz.

Wissenschaftlerinnen werden dazu angeregt, sich in Verzeichnisse oder Repositorien aufnehmen zu lassen, wodurch andere Wissenschaftlern und Organisatoren sie leichter finden. Mit diesem Ziel wurde WiNRepo eingerichtet. Neurowissenschaftlerinnen können ihr Fachgebiet in der Datenbank erfassen und detailliert beschreiben. „Bestimmte Funktionen auf der Website beziehen sich auf einige der skeptischen Kommentare, zum Beispiel indem wir es anderen Wissenschaftlern ermöglichen, positives Feedback zu den Vorträgen oder Beiträgen unserer Listenmitglieder zu hinterlassen“, so Genon. „Wir halten es für wichtig, Forschern und Organisatoren die Möglichkeit zu geben, Entscheidungen auf der Grundlage von Fakten zu treffen.“

Inzwischen wäre es falsch anzunehmen, dass noch nichts davon in die Praxis umgesetzt wird. Einige Unternehmen wenden bereits einige der genannten Maßnahmen an. „Die Society for Neuroscience zum Beispiel ist sich der Geschlechterproblematik sehr bewusst“, sagt Genon. „Und die Organisation of Human Brain Mapping (OHBM) unterstützt es inzwischen, mit Kind zu den Konferenzen anzureisen.“


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