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Von Kassen und Politikern

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Grafik: Daniel Grasmeier
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Langsam schiebt sich der Unterkiefer etwas vor. Der Mund wird breiter und die kirschrote Innenseite der Unterlippe wird sichtbar. Die Augen werden kleiner und zu einem Schlitz. Eine erste Träne perlt über die sich rot färbenden Wangen. Die Anspannung steigt. Sichtbar. Dann ein verzweifeltes „Ich will aber!“

So oder so ähnlich reagieren meist kleine Kinder darauf, wenn sie etwas unbedingt wollen, aber nicht dürfen oder bekommen. Der prägnante Trotzmund zeigt deutlich, hier geht es innerlich zur Sache. Die tiefe Enttäuschung als Resultat der nicht erfüllten Erwartung, seinen Wunsch unbegreiflich verweigert und nicht befriedigt zu bekommen, sucht sich mit Enttäuschung einen Weg. Nach draußen.

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Oft baut sich auch noch Wut auf. Wut darüber, nicht verstanden zu werden, unerhört zu sein und die Glasklarheit erkannt zu haben, mein Wunsch, mein Wille wird nicht geschehen. Als dritte Komponente kommt dann noch Sturheit dazu. Und manchmal bricht dann ein kleiner Vulkan aus. Mit aller Kraft, die so ein heranwachsender Charakter aufbringen kann. Akustisch begleitet von hochfrequentem Wehklagen. Sich dann orts- und zeitflexibel auf den Boden zu werfen, ist dann die Krönung der unkontrollierten Entgleisung. Oder mit dem Kopf im wahrsten Sinne des Wortes gegen die Wand zu rennen. Alles schon live erlebt. Aber irgendwann dann auch nachlassend, aus Erschöpfung und nicht dem Begreifen, die Methode hat nicht funktioniert.

Die einzig bleibende Gewissheit aller Erziehenden, die diesem Zustand ihres Ablegers ausgesetzt sind, ist: Irgendwann hört es auf. Ehrlich. Auch wenn einem das in der Situation unvorstellbar scheint. Junge Eltern, die das zum ersten Mal erleben, haben das Gefühl, unfähig zu sein, zu versagen, versinken zu wollen. Nicht da zu sein. Als Turbobooster der Gefühle die Blicke aller vermeintlich nicht Beteiligten, als Katalysator. Einheitlich „Versagen“ denken und nonverbal kopfschüttelnd anklagen: „Wieder mal Eltern, die es nicht im Griff haben!“ Besserwissender, erwachsen geborener Idiot.

Der Klassiker für diese Szene ist die rundum „kindgerecht“ sortierte Supermarktkasse. Noch immer findet man in diesen unausweichlichen Wartezonen Lollis, Überraschungseier, Kaugummis oder Eistruhen. Bewusste Genussmitteldressur. So wie auf Elternaugenhöhe vollautomatisierte Kippenversorgungsstationen installiert sind, läuft auf der unteren Etage das Verlockungskino für Kids. Rauchen ist schädlich. Die sagenhaften 104 Gramm Zucker, die jeder Deutsche täglich zu sich nimmt, auch. Gestern noch im Ernährungs-TV besprochen. Gnädige Supermarktbetreiber – speziell die von modernen Biomärkten – haben diese Zonen entschärft. Sie zeigen Verständnis. Haben verstanden, dass man allen Beteiligten potenziellen Stress nehmen kann. Freiwillig wird auf diesen Umsatz verzichtet. Hier bin ich Mensch. Hier kauf ich ein. Oder eben nicht.

Mindestens drei Standardeskalationsvarianten von Trotz habe ich erkennen können. Wut in Kombination mit nonverbalem Krawall. Dann Sturheit in Kombination mit Krawall. Wut mit Trotz, gewürzt mit Sturheit in Kombination mit tiefster Verachtung der Welt. Alle anderen sind blöd, sie wissen es nur nicht.

Interessant ist dabei, dass nicht nur Kinder solche Muster ausleben. Auch scheinbar vollzurechnungsfähige Erwachsene können das und merken nicht, wie fatal lächerlich dieses Verhalten wirkt. Prominentester Vertreter war ein eben noch mächtiger Mann, der sein Weltbild in den letzten Jahren größtenteils konsequent durch eine Trotzbrille betrachtet hat. „Wir haben das Virus im Griff!“ Sie ahnen schon, wer hier zitiert wird. Permanent wird verleugnet, lässt man verleugnen, was zur größten gesundheitlichen Tragödie der aktuellen Zeit geworden ist. Der ganzen Welt gegenüber und als Machtbeweis für seine politischen Gegner. Ein Trotzkomplott.

Genauso trotzig dann die Reaktion nach verlorener Wahl. Was nicht in die eigene Story passt, wird abgelehnt und nachhaltig bestritten. Mit allen Mitteln dagegen agiert. Wie an der Supermarktkasse, nur eben gegen die Welt gerichtet. Macht und Trotz, durften wir erleben, sind längerfristig eine unberechenbar schädliche Konstellation. „Ihr werdet schon sehen, was Ihr davon habt, wenn ich meinen Willen nicht bekomme oder ihr nicht mir gehorcht.“ Dabei wendet sich das eigene Verhalten immer gegen die anderen. Das ist das unfaire Resümee des Trotzes.

Bei Kindern nicht bewusst gewollt – da gehört das zur Entwicklung und ist eine wichtige Erfahrung. So verstanden hat der Zustand etwas Positives. Er kann etwas Antreibendes, zum Durchhalten Motivierendes in sich tragen.

Ich las vor einigen Tagen in einem sozialen Netzwerk folgenden Eintrag: „Ich habe mir die größtmögliche Komfortzone eingerichtet, die mich diese Pandemie unbeschadet überstehen lässt. Gerade habe ich mich daran gewöhnt, wie bereichernd das Leben abseits von Partys, Drogen, flüchtigen Bekanntschaften und überteuerten Drinks sein kann. Und jetzt soll ich wieder zurück.“ (Gefunden bei DIEVERPEILTE.) Fazit jetzt: Trotz der Pandemie ging es den meisten von uns gut. Eine wunderbare Form des ironischen Trotzes. Im erweiterten Sinne mit der Bedeutung, etwas „zu trutzen“.

Und so begleitet uns alle, irgendwie, das Gefühl des kindlichen Trotzes ein Leben lang. Dieser entwickelt sich dann unter positivem Vorzeichen zur intelligenteren Form des Durchsetzungsvermögens. Gerade herausragende Persönlichkeiten und Kulturschaffende berichten in ihren Biografien oft von ausgeprägten Trotzphasen. Sie wollten unbedingt ihren Weg einschlagen, oft gegen den Widerstand von außen. Große Erfindungen und Entdeckungen sind oft nur durch sture Beharrlichkeit und Durchhaltevermögen zu Stande gekommen. Wie war das nochmal mit dem Ei? Ein bekannter deutscher Politiker und Kabinettsmitglied gab Anfang Juni im SZ Magazin ein Interview und prägte für sich den Satz: „Beharrungsvermögen kann man als Stärke betrachten – oder als Starrsinn.“ Das spricht für eine gute Portion Selbstreflexion.


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