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Das Übel an der Wurzel packen

Als der erste Lock-Down vor genau einem Jahr sich über unseren Alltag legte, hatten wir alle nur eine ungefähre Ahnung was noch auf uns zukommt.

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Foto: PublicDomainPictures / pixabay
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Nur zur Klarstellung: Ich fühle mich da nicht als Opfer, noch will ich jammern oder die Notwendigkeit von Eindämmungsmaßnahmen in Frage stellen. Trotzdem, „es“ hat etwas mit mir gemacht, damals im Frühjahr 2020. Als eine wichtige Konstante meines sonst manchmal hektischen und sehr mobilen Lebensstils fiel mir die Natur auf. Die Jahreszeiten, das Wetter, der Tag- und Nachtrhythmus veränderten sich nicht. Im Gegenzug waren weniger Autos auf den Straßen, dafür mehr Fahrräder und Wanderer. Es wurde mehr gebacken und daher fast sinnlose Mehl- und Hefevorräte angelegt. Toilettenpapier wurde zur parallelen Währung und der bisher nur aus der medizinischen Anwendung bekannte Mund-Nasenschutz mutierte zum Modeaccessoire.

Eben in dieser Zeit wachte dann in der Frühlingssonne unser Garten wieder auf. Osterglocken und Tulpen drückten ihre Spitzen durch die noch winterfeuchte Erde. Die ersten Mückenschwärme tanzten im sonnigen Gegenlicht. Heute schon die Wiese mähen oder erst nächste Woche? Weil doch noch mal Frost oder vielleicht ein verspäteter Schneeschauer kommen könnte. Wiese. Bedeutet in der Regel grüne, einigermaßen gleichmäßig eben Fläche. Manchmal durchsetzt mit Unkräutern – würde ein Green-Keeper sagen. Obwohl es Unkraut ja gar nicht gibt. Es heißt richtigerweise Wiesenkräuter. Ein Feldhase ist zum Beispiel ein Wiesenkräuterprofi. Er hoppelt nur dort, wo eine ganz besondere Mischung von Dutzenden verschiedener Kräuter vorkommt. Unsere Wiese vor dem Haus ist eine perfekte Hasenwiese, mit einem einzigen Manko. Der Löwenzahn hatte im Frühling letzten Jahres plötzlich störend die Überhand gewonnen. Beim BVB gibt es den Begriff der gelben Wand. Diese Dominanz schreckt Gegner ab und bei uns ähnlich, verdrängte das Gelb alles andere Bunte inklusive des Grüns. In meinem Lock-Down Phlegma und bedingt durch viel Zeit fasste ich einen wagemutigen Plan. Der Löwenzahn muss weg. Ich rüstete mich entsprechend aus und die sorgfältig zusammengestellte Kampfausrüstung bestand aus meinem Mobiltelefon mit Kopfhörer, dem vorausgegangenen Download von genügend Podcast Episoden der Reihe „Zeit Verbrechen“.

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Ein hölzerner Kinderstuhl, der ursprünglich, wie sich schnell herausstellte, nicht auf fast 100 Kg Belastung ausgelegt war und nur durch entsprechende Verstärkung meiner Körpergravitation standhielt. Ein banaler Eimer und – zu Beginn meiner Attacke – dem alten Küchenmesser aus unserem Gartenschuppen. Nicht zu vergessen meine leichten Gartenhandschuhe. Schal und Mütze – es war nämlich trotz Sonnenschein noch recht kalt. So zog ich dann mit Kampfeslust ins „Feld“. Auf mich wartete immerhin ein zurückzueroberndes Gebiet von einigen hundert Quadratmetern. Ich stapfte los und kam mir kurzzeitig vor, wie ein Raubfisch im Ozean, der auf einen Makrelenschwarm trifft und von der Fülle des Angebotes so geflasht ist, dass er nicht das Maul aufbekommt und hektisch im Kreis herumschwimmt, ohne zuzuschnappen. Wo fange ich an? An einer Ecke, am Rand hier oder dort, im Schatten oder in der Sonne? Lieber eine falsche Entscheidung als keine. Ich stellte mein Stühlchen mutig mittig in der Wiese auf. Es folgte ein Handlungsablauf, der in den nächsten fast vierzehn Tagen zum Ritual wurde. Kopfhörer aufsetzen, Podcast Episode starten, Handschuhe an, Messer ergreifen – zielen, zustechen, drehen, Strunk packen, ziehen, nachstechen, wieder ziehen. Mit einem Knackgeräusch, ähnlich wie beim Ausdrehen eines Hähnchenschenkels, verabschiedet sich die Wurzel aus dem klammernden Untergrund und wandert in den Eimer. Irgendwie passte dieses Geräusch, dass ich mehr haptisch als akustische wahrnahm auch zu meinem Podcast. Im parallelen Gedankengang überlegte ich, warum eine so kleine Wurzel so fest im Boden ankerte.

Löwenzahn hat eine Pfahlwurzel, wie eine Möhre. Von zahnstocher- bis fingerdick, bei richtig großen Exemplaren, die 10 bis 60 Zentimeter hoch wachsen. Die mitteldicken waren die schlimmsten. Wenig „Pack-an“ aber großer Widerstand. Nach zwei Stunden spürte ich fast jeden Knochen. Immer wieder – nach vorne gebeugt zustechen und weiter, wie oben beschrieben. Die Knie angewinkelt und gefühlt neben den Ohren. Der Menge Gegner im erreichbaren Radius entsprechend ca. alle drei bis fünf Minuten: Hintern hoch, Stühlchen greifen und weiterrücken, in die gehockte Sitzstellung zurückplumsen lassen usw.. Die erste schwerwiegende Verschleißerscheinung machte mir bald zu schaffen. Eine zwei Cent Stück große Blase reizte meinen tastaturverweichlichten rechten Handteller bis zur nächsten Hautschicht. Die Küchenmessergriffergonomie. Genug für heute. Über Amazon Prime – stationärer Handel ging ja nicht wegen Lockdown – bestellte ich das absolute Profiwerkzeug. Einen Unkrautstecher mit kraftsparendem Handgriff und Ballenmulde und bester Edelstahlklinge mit fast Krummsäbel anmutend. Mein gelber Feind, mach Dich auf was gefasst, träumte ich beim Klick auf den Bestell-Button. Und tatsächlich, 24 Stunden später brachte ein ausgelaugter DHL Express Fahrer in löwenzahngelb einen Luftpolsterumschlag. Sein Blick erhellte sich, als ich ihm eine Flasche Wasser und ein Mars reichte. Verbündete muss man bei Laune halten. Ich öffnete die Verpackung und strich mit Ehrfurcht über die neue Wunderwaffe. Der Griff fühlte sich gut, mehr als gut an und lag geschmeidig in der Hand. Heute nicht mehr, entschied ich strategisch. Nachts träumte ich von Löwenzahnwurzeln, groß, wie ein bayerischer Rettich.

Frühstück, zwei Spiegeleier – löwenzahngelber Dotter – mit Speck und dann ab in den Garten. Meinem Ritual folgend hatte ich gerade wieder „Platz genommen“ und begab mich in meinen fast hypnotischen Kampfzustand. Im Augenwinkel sah ich den Nachbarn in seinem SUV vorbeirollen. Langsam, noch langsamer als sonst. Das Fenster der Beifahrerseite senkte sich. Das Auto kam zum Stehen. Er winkte mich interessiert zu sich heran. Wir haben ab und zu ein Schwätzchen, wohlwollend mit gegenseitiger Sympathie und Höflichkeit. „Was machst Du da?“ fragte er mit deutlich erstauntem, fast zweifelndem Tonfall. Mit tiefer Überzeugung antwortete ich: „Ich reiße das Übel mit der Wurzel aus! Irgendwie muss ich diesen Lock-Down Frust loswerden!“ „Und da legst Du Dich mit einer bayerischen Löwenzahnwiese an? Das kannst Du nicht gewinnen!“ Der Satz traf mich hart. Genauso wie der gesamte Charakter dieser Botschaft. Nicht überheblich, sondern eher mitleidig und gleichzeitig tief erstaunt. Aber auch irgendwie, ganz hinten drin hörte ich dieses „Mia san mia“. Allmorgendlich fuhr er kopfschüttelnd grüßend vorbei. Ich freundlich winkend, innerlich verkniffen ignorierend und meinungsstabil von meinem Handeln überzeugt. Nach zwei Wochen und einigen Tagen, war die Wiese „sauber“. Sie blieb es auch über den Sommer. Die erneute Invasion blieb in 2020 aus. Steife Knochen, die Rückenschmerzen und die Blase waren schnell vergessen. Ich warte jetzt darauf, wie die Wiese sich in diesem Frühling präsentiert. Während ich dies schreibe ist wieder noch Lock-down. Wir alle haben viel gelernt und erlebt in den letzten zwölf Monaten. Durchhalten, dranbleiben und nicht den Mut nehmen lassen. Wir haben gesellschaftliche Spaltung und Distanz erfahren. Mein Weg waren Pragmatismus und Vorsicht gepaart mit Zuversicht und Rücksicht. Dazu noch ein großer Schuss Toleranz – auch für den Löwenzahn.

Er ist ein wirkliches Kraftpaket und alle Teile der Pflanze lassen sich tatsächlich verarbeiten. Blüte, Stängel, Blätter und Wurzel haben Heilkräfte und sind essbar. Übrigens trotz der Ähnlichkeit ist Rucola keine Löwenzahnart. Löwenzahn reguliert den Blutdruck. Der bittere Milchsaft „Taraxin“ enthält Bitterstoffe, die dem Magen und Darmtrakt helfen. Er kann direkt vom Wegrand gepflückt und verzehrt werden. Oder frisch gesammelt zu Salat verarbeitet werden. Manche mixen ihn zu Smoothies, braten ihn oder kreieren ein Pesto daraus.


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